Im Schatten des Drachen
mich mit Betreten des Hotelfoyers befallen hatte. Zwei Männer zu später Stunde mit dem unverkennbaren Pubgeruch im Schlepptau. Doch die junge Frau an der Rezeption hatte mit keiner ihrer künstlichen Wimpern gezuckt, sondern, getreu dem ihr bis zur Selbstverleugnung eingebläuten Protokoll der Hoteletikette, mir oder besser uns beiden einen schönen Abend gewünscht.
Zum ersten Mal war ich froh, dass das Zimmermädchen Hand an meine Sachen gelegt und sie aufgeräumt hatte. Mittlerweile machte ich mir nicht mehr die Mühe, morgens das allabendliche Chaos selbst zu beseitigen. Ich deutete auf die Couch.
„Setz dich doch, mach es dir bequem.“
Ich drehte mich nicht zu Paul um, sondern ging direkt ins Bad. Mittlerweile war mein Bein ein einziger Schmerz, und ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Eigentlich sollte ich es waschen, einreiben, hochlegen und ausruhen. Aber das war nicht möglich, nicht jetzt! Ich setzte mich auf den Toilettendeckel und massierte meinen Oberschenkel und die Wade. Mein Herz raste.
Da drüben saß ein Mann in meinem Zimmer, dem ich vor ein paar Tagen im Park einfach nur einen Moment zu lange in die Augen geschaut hatte. Was sollte das jetzt werden? Wie sollte das werden? Was würde er tun, von mir wollen? Die unbekannte Situation machte mich aggressiv; die Angst, die Kontrolle zu verlieren, steigerte die Spannung in mir ins Unerträgliche. Wie zur Hölle sollte ich nur diese verdammten Schmerzen loswerden, nur für zwei, drei Stunden noch? Meine Massagebewegungen waren heftiger geworden; wütend kniff ich mir in die Muskeln, um einen ablenkenden Gegenschmerz zu erzeugen. Doch dann erhob ich mich ächzend. Nichts anderes würde jetzt helfen.
In dem Moment, als ich die Pillen in den Mund nahm, ging leise die Tür auf. „Are you all right?“
Verdammt, wieso hatte ich vergessen zuzuriegeln? Logisch, wenn man allein in einem Hotelzimmer lebte, sperrte man sich nicht selbst im Klo ein. Jetzt dagegen fühlte ich mich in meiner eigenen Box wie ein Hengst in Panik, der nicht fliehen konnte, und das machte mich noch aggressiver.
„Ja. Geh raus!“
Doch Paul schien auf die Aggression in meiner Stimme überhaupt nicht zu reagieren, denn er trat im Gegenteil noch dichter an mich heran. „Was nimmst du da für Pillen?“, fragte er mit ruhiger, ganz sachlicher Stimme.
Ich musste jetzt erst einmal die bitteren, schon halb aufgelösten Tabletten in meinem Mund mit Wasser runterspülen. Das ungute Gefühl, ihm und seinen Fragen schutzlos ausgeliefert zu sein, machte mich fast rasend.
„Das geht dich nichts an.“
Ich erschrak selbst über die Kälte in meiner Stimme. Das Wasser im Glas zitterte. Ich kippte es aus und stützte mich dann haltsuchend mit beiden Händen auf dem Waschbeckenrand ab. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel zeigte mir, dass Paul noch immer dicht hinter mir stand. Er hatte die Packung auf dem Spülkasten entdeckt und entzifferte nun die Beschriftung.
„Es ist ... ein Schmerzmittel, ziemlich stark, nicht wahr?“
„Mein Bein tut weh.“ Für einen Moment hielt ich den Atem an. Es war das erste Mal, dass ich einem Fremden gegenüber die Schmerzen zugab. Zwischen zwei Haarsträhnen hindurch schielte ich in den Spiegel.
Paul zuckte leicht mit der Schulter.
„Dann mach doch die Prothese ab.“
Die Angst in meinen Venen geriet ins Stocken. Die Selbstverständlichkeit, mit der er von dem sprach, was wie ein Fluch für mich war, ernüchterte mich. Wie kam er überhaupt darauf? Sicher, er hatte meinen Gang beobachtet, aber es hätte auch einfach nur ein steifes Bein sein können, eine schlecht verheilte Verletzung, eine kürzliche Verstauchung. Die Prothese hatte ich bisher mit keinem Wort erwähnt.
„Ich muss mal pinkeln.“ Ich wollte seinen letzten Satz ungesagt und ungehört machen, einfach übergehen, und etwas Besseres fiel mir in meiner Verwirrung nicht ein.
Paul rührte sich nicht.
Wieder flammte meine Aggression auf. „Willst du mir dabei etwa zusehen?“
Pauls Gesicht im Spiegel fing an zu grinsen. „Wenn du es im Stehen machst ...“
Ich drehte mich empört um, aber im nächsten Augenblick lachte er auf und hob abwehrend die Hände. „No, no, sorry, schon gut. Ich warte drüben auf dich.“ Damit trat er zurück und schloss mit Nachdruck die Tür.
Ich riegelte zu. Und pinkelte dann wirklich erst mal.
Ich ließ mir Zeit im Bad, ganze zehn Minuten, aber er klopfte nicht noch einmal. Schließlich hatte ich genug Mut in mir zusammengekratzt, um
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