Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
Vom Netzwerk:
Prothese und Unterschenkel. Wanderte dann hinauf bis zum Knie, über meine Hände hinweg und schließlich in meine Augen.
    „Mach es ab“, forderte er mich wie selbstverständlich auf.
    Eigentlich hätte er geschockt sein müssen. Oder spielte er nur? Mittlerweile war mir alles egal. Ich beugte mich nach unten und betätigte das Ventil. Mit einem fast unhörbaren Zischen entwich der Unterdruck, und die Prothese löste sich. Ich streifte sie mitsamt dem prothetischen Strumpf ab und stellte das künstliche Unterbein provokativ neben mich auf den Boden. Der Stumpf baumelte haltlos in der Luft.
    Noch immer starrte ich Paul ins Gesicht, und er auf mein Bein. Zumindest auf das, was davon übrig war. Unter dem Knie existierte nur noch eine Art Haltepflock, der in die Prothese eingesetzt wurde. Er war feuerrot, prickelte und schmerzte trotz der Tabletten. Überdeutlich traten die Operationsnarben hervor, und irgendwo spürte ich den Vorboten einer Druckstelle. Verdammt, auch das noch. Wahrscheinlich hatte der Strumpf eine winzige Falte geschlagen, als ich ihn heute Nachmittag überstürzt und unachtsam angezogen hatte. Ich unterdrückte den Impuls, über den Stumpf zu streichen und ihn zu massieren, wie ich es sonst immer tat - keinesfalls liebevoll und zärtlich, sondern eher aus der Notwendigkeit heraus, die Durchblutung der eingeschnürten Haut schneller anzuregen, damit wenigstens das Kribbeln aufhörte.
    Ich hasste mich dafür, dass ich hier saß, hilflos, wehrlos wie ein waidwundes Tier. Und ich hasste ihn dafür, dass er mich nicht endlich abschoss. Warum tat er nichts? Überlegte er sich, mit welcher Strategie er sich jetzt am besten doch noch aus dem Zimmer und dem Hotel stehlen konnte, ohne mich damit all zu sehr zu verletzen? Dabei war es völlig egal, was er sich ausdachte, welche Ausreden, welche Entschuldigungen. Es genügte nur ein Blick zur Tür, damit ich jetzt wieder sterben konnte. Meine Augen brannten wie Feuer - ich hatte seit über zwei Minuten nicht geblinzelt. Jetzt musste ich es tun.
    Mit einem Mal hatte ich keine Kraft mehr, die Augen wieder zu öffnen. Vielleicht war es aber auch besser, ihn nicht gehen zu sehen.
    „Mach bitte die Tür zu, wenn du gehst“, flüsterte ich erschöpft, „ich möchte so nicht auf dem Flur gesehen werden.“
    Er sagte noch immer nichts, doch ich spürte, wie er sich bewegte. Hoffentlich ließ er nichts liegen, wenn er das Zimmer verließ, denn ich würde es ihm nicht hinterher tragen können.
    Plötzlich fühlte ich seine Fingerspitzen auf dem Stumpf. Sie waren unglaublich kühl, weich, leicht. Vorsichtig strich er über die Narben, hinterließ prickelnde Spuren auf der brennenden Haut. Es war ein seltsames Gefühl, denn seit fünf Jahren hatten mich dort nur Ärzte, Schwestern oder meine eigenen Hände berührt. Keiner war dabei so zärtlich gewesen wie diese Fingerspitzen.
    „Du bist so hart dazu“, wisperte er, während er auf dem Stumpf auf und ab streichelte. „Es ist so tapfer, und es trägt dich so geduldig, obwohl es so krank ist. Du darfst es nicht so sehr quälen.“
    Damit legte er beide Handflächen wie kühlende Umschläge auf die Haut und begann, den Stumpf zu massieren und dabei seltsam dumpf klingende Worte zu murmeln, die ich nicht verstand. Vielleicht wollte ich sie aber auch nicht verstehen. Ich ließ mich einfach in die Polster zurückfallen und stöhnte leise auf. Es war wie ein Traum, in dem ich mich gerade wähnte, und ich wollte ihn um nichts in der Welt vorzeitig abbrechen. Die Musik umspann mich wie ein Tuch aus blauen Nebeln, seine Hände beschwichtigten meine größten Ängste, und die Tabletten wirkten fabelhaft.
    Erst als ich seine Hand über mein Knie hinaus über die Oberschenkel zu meinen Hüften gleiten spürte, kam die Angst mit einem Schlag zurück, und augenblicklich versteifte ich mich.
    „Ruhig“, hörte ich seine Stimme, „ruhig, Matty. Entspann dich, es ist gut, du wirst sehen.“
    Eigentlich wollte ich nichts sehen. Nichts spüren. Taub und tot sein wie das Bein, das ich nicht mehr hatte. Aber mein Körper reagierte bereits auf seine Liebkosungen, ohne dass ich etwas dagegen setzen konnte als ein kraftloses: „Nein, bitte, ich...“ Der Rest ging unter in einem gewaltigen Seufzen, und dann gab ich mich selbst auf und seinen Händen hin.
    Geschickt half er mir auch aus dem anderen Schuh, und dann glitt die Hose vollends zu Boden. Seine Hände waren unglaublich flink, leicht und sanft wie leise Regenschauer. Eine

Weitere Kostenlose Bücher