Im Schatten des Drachen
ihm wieder gegenüberzutreten. Außerdem begannen die Schmerztabletten zu wirken. Sie benebelten nicht nur das Bein, sondern den ganzen Körper, den Kopf, die Sinne. Eigentlich hätte ich in meinem Zustand ins Bett gehört - allein.
Stattdessen setzte ich mich auf die Couch, Paul gegenüber, der im Sessel Platz genommen hatte und ein CD-Cover in den Händen drehte. Erst jetzt nahm ich die Musik wahr, die gedämpft aus den Boxen im Wandregal zu uns herüberdrang. Klaviermusik. Marcs Musik. Irgendwann hatte er die verrückte Idee gehabt, seine und meine Lieblingsstücke auf CD einzuspielen. Es war merkwürdig, dass Paul gerade diese Scheibe ausgewählt hatte.
Ich lehnte den Kopf gegen die weichen Polster der Lehne und schloss die Augen. Eine ganze Weile saßen wir schweigend beieinander, lauschten wie verzaubert den Klaviertönen. Es war seltsam, diese Musik hier in Dublin wieder zu hören. Zunächst vermittelte sie mir ein Gefühl der Vertrautheit, der Gemütlichkeit und Wärme, und es kam mir vor, als säße ich wieder neben ihm am Flügel. Doch zuletzt hatte ich diese Stücke vor fünf Jahren gehört, und mit jeder weiteren Kadenz, die durch die künstlichen Membranen der Boxen an mein Trommelfell drang, wurde mir bewusster, dass jetzt alles ganz anders war als damals; mit jedem Takt wurde es deutlicher, bummerte schließlich in meinem Innersten wie ein übersteuerter Bass. Ich hielt es fast nicht mehr aus.
Im nächsten Moment spürte ich einen Luftzug um mich herum und eine Bewegung an meinen Beinen. Abrupt riss ich die Augen auf und starrte auf den Boden. Paul kniete vor mir, hatte eine Hand auf mein linkes Knie gelegt und schaute mich offen an.
„Zeige es mir. Ich möchte es sehen. Ich möchte sehen, was du hast“, flüsterte er.
In mir drehte sich alles. Gleichzeitig war mein Kopf wie mit Watte umhüllt. War das die Musik, die Tabletten oder beides? Widerspruchslos beugte ich mich nach vorne, griff nach dem Saum des linken Hosenbeines und begann, es langsam nach oben aufzurollen. Dabei blickte ich die ganze Zeit direkt in Pauls sommersprossiges, beinahe unschuldig anmutendes Gesicht. Ich wollte seine Reaktion sehen auf das, was er gleich sehen würde, und von dem ich schon genug gesehen hatte.
Frankfurt, Universitätsklinikum, Ende Juni 2002
Seit sechs Wochen war er jetzt auf Station, aber es kam ihm vor wie ein halbes Leben. Eins ohne Richtung, ohne Ziel, ja sogar ohne Antrieb. Den hatte er verloren, den inneren genauso wie den äußeren. Dieses würdelose Herumgehüpfe mit diesen verdammten Krücken - Unterarmgehstützen, oder einfach „UGeS“,wie der Therapeut sie nannte - kotzte ihn an, und in einen Rollstuhl, das hatte er sich geschworen, würde er sich nur für eine Talfahrt vom Gipfel des Mont Blanc setzen. Die Depressionen nahmen zu und stürzten ihn für immer längere Zeit aus seinen Angst- und Schuldgefühlen in eine morbide Teilnahmslosigkeit. Es war eine der vielen möglichen Reaktionen auf seine momentane Situation, und was andere durch aggressive Fressattacken hinunterzuwürgen suchten, hungerte er einfach aus.
Josefine, die ihn jeden Tag besuchen kam, war kaum im Stande, ihren Schock über sein Äußeres und ihre Besorgnis um sein Inneres hinter einem tapferen Lächeln zu verbergen, und er verlangte es nicht von ihr. Seine Eltern kamen an den Wochenenden, blieben meist für zwei Stunden, in denen viel geredet und noch mehr geweint wurde, wobei hauptsächlich seine Mutter die Tränen vergoss, während ihn sein Vater in bemüht lockerem Plauderton über die belanglosen Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens außerhalb dieser weißen, sterilen Mauern unterrichtete. Über alles wurde geredet, nur nicht über Marc oder Motorräder, Irland oder die Zukunft. Doch eigentlich war es Johannes so ganz recht. Er wollte es nicht mehr wissen, weil er der festen Überzeugung war, daran nicht mehr teilhaben zu wollen. Und die da draußen wollten ihn wahrscheinlich auch nicht mehr, einen hilflosen Krüppel mit dreieinhalb Beinen.
Sein Physiotherapeut sah die Sache anders. „Sie werden wieder laufen, Johannes. Und zwar hiermit.“ Mit diesen Worten stellte Torsten an einem verregneten Mittwochnachmittag etwas auf Johannes’ Nachttisch, das aussah wie die linke, untere Extremität eines Roboters.
Johannes’ Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das künstliche Bein symbolisierte völlig unmissverständlich seine eigene Unzulänglichkeit, kategorisierte ihn
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