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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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knallhart zu dem, das zu sein er sich bisher standhaft geweigert hatte: einen „Unterschenkelamputierten“, wie es auf seiner Krankenakte stand. Er war nicht fähig, zu schreien oder zu protestieren; nur in seinen Augen stand ein stummes Flehen, mit dieser Folter endlich aufzuhören.
    Eine ganze Weile stand das künstliche Körperteil unbeachtet auf dem Nachttisch, doch Torsten ließ ihm die Zeit, sich dem Ding in seinem eigenen Tempo zu nähern. Irgendwann berührte Johannes es mit den Fingerspitzen, strich prüfend über das kühle Metall, wog es schließlich in der Hand und untersuchte endlich seine einzelnen Komponenten.
    Die Prothese bestand aus zwei Teilen: dem Fußpassteil und einem kurzen Schaft, in den sein Stumpf eingesetzt werden sollte. Johannes sah ein metallenes Gestänge mit Stiften, Bolzen und etwas, das einem Fuß ähnelte, statt der Knochen und Sehnen einen Holzkern beinhaltete, der die puffernden und beweglichen Elemente trug und über einen metallenen Pyramidenkopf mit der restlichen Prothese verbunden war. Die an der Wade improvisierte Verkleidung aus hautfarbenem Kunststoff erregte seinen Ekel, denn bis auf die Farbe hatte sie nichts mit dem gemein, was die Prothese künftig ersetzen sollte. Torsten versprach, dass diese kosmetischen Feinheiten den krönenden Abschluss ihrer langen Kennlernphase bilden würden, etwa den Zuckersatz in dem rabenschwarzen Kaffee, den er jetzt erst einmal trinken musste.
    „Zuerst müssen Sie verstehen, wie Ihr neuer Fuß funktioniert. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen und viel Geduld erfordern, Johannes. In Ihrem Fall war es nicht möglich, gleich während der Operation einen Verbindungsstift in Ihrem Unterschenkel einzusetzen, sodass für Sie nunmehr die Prothesenvariante mit einem Saugschaft in Frage kommt. Das hier ist nur ein Modell, Ihre eigene Prothese wird erst noch maßgeschneidert angefertigt werden. Das Prinzip der Prothesenhaftung beruht auf einem leichten Unterdruck zwischen Stumpf und Prothesenschaft. Dazu muss der Schaft Ihrem Stumpf entsprechend genau angepasst werden. Keine Stangenware also, sondern ein Unikat, das Ihnen für all Ihre Mühen mehr als nur Ihre Mobilität zurückgeben wird.“
    Bei dem Gedanken, dass fortan kaltes, glibberiges Silikon die wundeste Stelle seines Körpers wie eine zweite Haut umschließen würde, wand sich der Ekel in Johannes’ Speiseröhre wie eine giftgrüne Schlange nach oben. Er würgte, und es war ihm nicht peinlich.
    Wider Erwarten nickte Torsten und ergänzte, als hätte er seine Gedanken gelesen: „Zusätzlich werden Sie den Stumpf mit einem speziellen Strumpf schützen. Es bleibt also alles beim alten: Unterhose an, Strümpfe an, dann Hose und Schuhe. Nur, dass zwischendurch noch die Prothese eingesetzt wird. Mit diesem kleinen Ventil erzeugen Sie mühelos den Unterdruck - und dann kann es losgehen. Irgendwelche Gurte oder Bänder wie im Mittelalter brauchen wir nicht mehr. Nur viel Übung - und Mut für den ersten Schritt.“
    Johannes blickte widerwillig auf das künstliche Körperteil in seiner Hand. Es schien wunderbar leicht, nicht nur, was das Gewicht betraf. Aber je mehr Torsten ihm erzählte, von Modularbauweise und Ganglabors, von Blitzschmerzen und Mobilitätsklassen, in die er einzustufen war, ihm die Gefahren des Treppensteigens erläuterte und auch darauf hinwies, dass dieses Teil trotz aller technischer Raffinessen und künftiger Forschungsergebnisse immer ein künstliches Hilfsmittel und damit dem mechanischen Verschleiß unterworfen sein würde, wurde ihm klar, was er alles an jenem Tag vor sechs Wochen verloren hatte. Unwiederbringlich. Er wünschte, er konnte sich selbst dem Unterdruck in diesem verdammten Prothesenschaft aussetzen.
       
     
    Wortlos schaute er auf das künstliche Bein. Mittlerweile sah es tatsächlich aus wie ein Bein. Dieses Kunststück hatte mich allerdings ein kleines Vermögen gekostet, der Zuckersatz in der Kaffeetasse war nicht umsonst zu haben, seinen Preis aber wert gewesen. Ziemlich realistisch imitierte der Kunststoff Haut, Adern, Poren und Haare meines verlorenen Beines, und der Fuß in dem Schuh hatte sogar fünf Zehen, die sich im Moment ziemlich vorwitzig und völlig unkontrolliert nach oben streckten, denn der Prothesenfuß passte sich der normalerweise leichten Überstreckhaltung des Beines im Sitzen nicht von allein an.
    Ich hatte keine Ahnung, ob Paul diese Details registrierte. Sein Blick hing wie gebannt auf der Verbindungsstelle zwischen

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