Im Schatten des Drachen
wieder eine dieser unzähligen Tabletten oder ...
„Überlegen Sie sich schon die Route für Ihren ersten Sommerspaziergang?“
Die Wärme und Weichheit in der Männerstimme ließ Johannes die Augen wieder öffnen und nach ihrer Quelle suchen. An der Tür stand keine untersetzte, vollbusige Krankenschwester, sondern ein hochgewachsener Pfleger mit dunklem, an den Schläfen schon deutlich graumeliertem Haar, kräftiger Statur und verschmitztem Lächeln in dem von Lachfältchen überzogenen Gesicht. Ein trotz seiner Reife sehr attraktiver Mann, wie Johannes spontan fand. Doch hauptsächlich war es der Anblick seiner Hände, der Johannes auf eine seltsame Weise Mut fassen ließ. Hände, die Kraft hatten, die zufassen konnten, halten und stützen. Lange, wenn es sein musste.
Der Pfleger kam auf ihn zu.
„Hey, ich bin Torsten, ab heute Ihr Physiotherapeut, und ich begleite Sie ein bisschen auf Ihren ersten Ausflügen, hier im Haus und dann auch draußen im Garten, okay? Ich würde vorschlagen, wir bleiben einfach beim Vornamen. Johannes, nicht wahr?“
Aus irgendeinem Grund tat es gut, aus Torstens Mund seinen vollständigen Namen zu hören, und er wollte, dass das so blieb.
Torsten nickte ihm wissend zu.
„Ich kann mich auch nicht ohne Spiegel rasieren. Warten Sie, ich habe ein Pflaster dabei.“
Mit zwei Schritten trat er nahe an Johannes heran, der wie festgewachsen an das Fensterbrett gelehnt stand. Es war ein Scheißgefühl, nicht einen Millimeter weit dem Impuls des Zurückweichens nachgeben zu können, aber es war auch nicht schlimmer als das plötzliche Verlangen, von diesen kräftigen Händen berührt zu werden. Johannes schloss wieder die Augen, damit der andere darin nicht den brennenden Wunsch nach einer zärtlichen Geste lesen konnte.
Mit beiden Daumen strich Torsten das kleine Pflaster über Johannes’ Kinn glatt.
„So, das hätten wir. Und nun, da Sie schon mal stehen, könnten wir doch eine kleine Runde auf dem Gang drehen, was meinen Sie, Johannes?“
Warum sprach er nur immer wieder seinen Namen aus, und warum fühlte sich das so gut an?
Sie gingen langsam über den lichtdurchfluteten Gang, Johannes gebeugt in den zwei Krücken, mit denen er seinen Körper Schritt um Schritt voranschob, während er sein linkes Bein - oder das, was davon übrig war - in dessen dickem Mull- und Bindenbett hinter sich hertrug. Er keuchte schon bald vor Anstrengung, doch er ignorierte eisern den Rollstuhl, den Torsten neben ihm herschob. Für den Fall, dass die Kräfte nachlassen sollten. Aber Johannes gestattete seinen Kräften nicht, nachzugeben. Nicht bevor sie alle Zimmer auf der Station abgelaufen waren, er alle Namensschilder gesehen hatte und sich sicher war, nirgendwo den Namen zu finden, von dem er doch wusste, dass er ihn hier nicht mehr würde lesen können.
Am Ende verließen Johannes dann doch die Kräfte. Mit einem tiefen Aufschluchzen brach er an der letzten Tür zusammen, ließ die Krücken fallen und sich selbst haltlos und unkontrolliert zu Boden sinken. Er fiel, fiel so tief und unendlich in den Strudel aus dem faden Weiß der Tapeten, dem stumpfen Grau des Linoleums und der beißenden Helligkeit der Neonlampen, die die Sonnenwärme von draußen wie in einem Kühlhaus einfroren. Der Strudel schien ihn für immer verschlingen zu wollen, und er wehrte sich nicht mehr dagegen - nicht nur wegen der Tabletten, die seine Sinne manipulierten.
Er lag in seinem Bett, wie ich es erwartet, nein, erhofft hatte. Er hatte mich nicht eintreten hören, und so blieb ich einen Augenblick an der Tür stehen und nahm das Bild in mich auf, das sich mir bot. Das Zimmer war steril weiß wie alle Krankenhauszimmer, ohne jeglichen Schmuck. Nur ein kleines Kreuz hing an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Ich fragte mich für einen Moment, ob Paul an Gott glaubte, und ob ihm die Vorstellung eines allmächtigen Wesens, das ihn beschützte, Trost spendete für das, was er erleiden musste. Ich wusste es nicht, wir hatten noch nicht darüber gesprochen. Was wusste ich schon von ihm? Und von mir?
Die Gardinen waren zugezogen, sodass sein Gesicht im Halbschatten lag. Die Augen waren geschlossen, nur der rotgoldene Kranz seiner Locken strahlte mich an. Ich wagte ein Flüstern.
„Paul?“
Er rührte sich nicht, und beinahe übermannte mich der Impuls, den Geigenkasten einfach abzustellen und so lautlos wieder zu verschwinden, wie ich gekommen war. Aber noch einmal weglaufen ging nicht.
Zögernd
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