Im Schatten des Drachen
Erlösung zugleich, als sie plötzlich in seinem Zimmer hinter seinem Schreibtischstuhl stand, ihm über die Schulter sah und den Blick scheu und neugierig zugleich abwechselnd auf ihn und die zerlesenen Zeitschriften in seinem Schoß richtete.
Wieder einmal hatte er sich fesseln lassen von dem, was zu begehren er sich selbst kaum einzugestehen wagte, und über die verbotenen Fantasien hatte er sie nicht hereinkommen hören. Nun war es zu spät, die verräterischen Bilder unter seinem Matheheft verschwinden zu lassen. Johannes konnte sich nicht entscheiden, ob er vor Wut schreien oder vor Erleichterung weinen sollte. Er wusste seit Monaten schon nicht mehr, was er tun, was denken, was fühlen sollte. Dass Josefine es war, die den Fluch brach, damit hatte er nicht mehr gerechnet.
Er hatte sie verloren geglaubt; der einzige Anker in seinem Leben - abgerissen vor gut einem Jahr, als plötzlich alles anders geworden war. Johannes hatte lange gebraucht, um die Veränderungen an und in ihr nachvollziehen zu können. Es war ein schmerzhaftes Verstehen gewesen, auch für ihn, als er irgendwann die Tamponschachtel in ihrem gemeinsamen Badezimmer gefunden hatte. Also hatte sie mittlerweile ihre Tage bekommen, was an sich normal und für ihn akzeptabel gewesen wäre. Aber das schlimme daran war, dass sie es ihm nicht gesagt, sondern sich zurückgezogen und ihn mit seinen quälenden Fragen alleingelassen hatte. Damit war der große Riss zwischen ihnen vollzogen. Plötzlich waren sie keine Kinder mehr, unschuldig und naiv. Sie spielten nicht mehr auf dem gleichen Level, befanden sich nicht mehr auf demselben Weg. Josefine wurde zur Frau, einer bestimmt sehr schönen Frau, und er - er wusste nicht, was aus ihm werden sollte.
Während sie ihm später von den Jungs erzählte, die sie abwechselnd süß, sexy und zum Kotzen fand, spürte er gar nichts in sich, das auch nur im Entferntesten mit dem anderen Geschlecht zu tun gehabt hätte. Sie schien es nicht zu merken; auch nicht, dass sich zwischen ihnen ganz langsam eine Kluft auftat, die zu überspringen er irgendwann nicht mehr schaffte. Unsicherheit und Schuldgefühle quälten ihn genauso wie die Verzweiflung darüber, ihr so viele Dinge nicht mehr erklären zu können: dass er neuerdings nach dem Sportunterricht oft erst als letzter die Duschen und Umkleidekabinen verließ, weil er erst einmal seiner Erregung wieder Herr werden musste; dass er das Wasserballtraining schon seit Wochen schwänzte, weil der Anblick der nackten, feuchten Oberkörper seiner Mannschaftskameraden für ihn zur Tortour wurde; dass er seine Zeit nicht mit Videospielen oder Musikclips verbrachte, sondern sich stundenlang diese teuflischen Bilder anschaute, die ihn fast um den Verstand brachten. Es waren keine nackten Frauen.
Und nun hatte ausgerechnet Josefine ihn dabei erwischt, wie er statt seiner Hausaufgaben es sich selbst machte, während sein Blick gebannt auf die Zeitschrift vor ihm geheftet war, wo ein wohlproportionierter Mann gerade dasselbe tat wie er. Es waren nur Fotos, unbeweglich und ohne Ton, doch in dem fremden Gesicht stand dasselbe lustvolle Stöhnen, das auch in seiner Brust steckte, während seine Fantasie dem anderen Stimme und Bewegung verlieh.
Bis er Josefine hinter sich atmen hörte.
Sie schien über ihren Fund erleichtert zu sein - vielleicht hatte sie instinktiv schon lange danach gesucht.
„Seit wann weißt du es?“
Ihre einfache Frage bot keinen Raum für gestammelte Ausflüchte oder geziertes Gekicher, und sein Ausweichmanöver.
„Was meinst du?“, ließ sie einfach nicht gelten.
„Dass du schwul bist.“
Aus ihrem Mund klang diese katastrophale Feststellung so cool, als hätte er sich nur ein Piercing in die Augenbraue schießen lassen - mit dem Unterschied, dass ein Piercing normal war und man es im Notfall wegmachen konnte.
Johannes zuckte die Schultern, versuchte, die rasende Panik in seinem Kopf zu beherrschen.
„Ich habe es mir nicht in den Kalender geschrieben. Es kam halt so.“
Sie nickte, blickte noch immer auf die Zeitschrift. Schließlich flüsterte sie: „Sie sehen sehr schön aus. Aufregend. Ich hab so was noch nie gesehen. Hast du mehr davon?“
Zuerst genierte er sich, ihr seine Schätze zu zeigen. Doch sie ließ sich ganz unbefangen aufs Bett sinken und betrachtete mit ihm zusammen die kleine Galerie seiner schönsten Bilder, die er sich in einem ausrangierten Hefter mit der Tarnaufschrift „Musik und Zeichnen“ zusammengestellt hatte.
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