Im Schatten des Drachen
Ton, als beträfe es gar nicht ihn selbst. Lediglich ein leichtes Zittern in seiner Stimme verriet mir, wie sehr er mit sich und seiner Angst vor meiner Reaktion kämpfte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ihm dabei in die Augen zu sehen, wenn er davon erzählte, was immer ich da zu hören bekommen würde. Meine Gesichtsmuskeln sollten entspannt und mein Blick weich und offen sein, meine Hände locker in meinem Schoß liegen. So jedenfalls wollte ich mich selbst sehen. Er dagegen blickte in ein verkrampftes, übernächtigtes Gesicht mit fest zusammengepressten Lippen über einem schutzsuchend zusammengekrümmten Körper, die Finger schier unentwirrbar ineinander verknotet. Es war nicht einfach, für keinen von uns.
„Diese Aura, ... ehm, also, was fühlst du da?“
Es war gefährlich, mit meinem vor wenigen Stunden erworbenen Halbwissen vor ihm anzugeben, aber ich wollte ihm verständlich machen, dass ich mir auch meine Gedanken gemacht hatte. Er lächelte nachsichtig über meinen ersten zaghaften Vorstoß in seine Welt.
„Das ist unterschiedlich. Mal ein Kribbeln in den Fingerspitzen, mal ein Taubheitsgefühl. Es ist nicht immer eindeutig, und ich muss genau darauf achten, damit ich es nicht übersehe.“
Ich nickte, obwohl ich mir nicht genau vorstellen konnte, wie ich ein momentanes Unwohlsein von einer Aura unterscheiden sollte.
„Darf ich dich noch etwas fragen?“
Er nickte der Geige in ihrem Kasten aufmunternd zu.
„Was spürst du, wenn du ... na ja, wenn du den Anfall hast?“
Endlich hob er den Blick und sah direkt in meine Augen.
„Nichts.“
Ich zuckte zusammen über die Endgültigkeit dieses Wortes.
„Nichts? Keinen Schmerz, keine Berührung? Nicht, wo du bist und wer um dich ist?“
„Nein.“
Eine Weile herrschte fassungsloses Schweigen zwischen uns, dann flüsterte ich beinahe tonlos: „Dann ist das ja wie ...“
„Ungelebte Zeit, ja. Das ist auch der Grund, warum ich Stille um mich herum nicht oder nur schwer ertrage. Ich brauche immer ein Geräusch im Hintergrund. Leise Musik, einen Motor, Vogelgezwitscher. Etwas, das mir sagt, dass es weitergeht. Sobald die Geräusche verschwinden, weiß ich, dass es losgeht, dass ich allein bin. Dass ich wieder dort bin, wohin mir keiner folgen kann. Nicht einmal ein Echo.“
Stumm starrte ich auf den leuchtend gelben Blütenkopf in seiner Hand. Es war wirklich totenstill in diesem schrecklichen weißen Raum. Nur die Armbanduhr auf seinem Nachttisch tickte leise und stetig vor sich hin. Sein Zeichen, dass es weiterging. Die Situation war gespenstisch.
Schließlich flüsterte ich die Worte, die mir niemand zuvor gesagt hatte.
„Ich möchte dir dorthin folgen, Paul. Kannst du mir nicht den Weg zeigen?“
Endlich legte sich seine Hand auf meine, kühl und heilend wie sein glasblauer Blick.
„Ich habe gehofft, dass du ihn selbst findest, Matty. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber ... du hast eine besonders schöne Stimme. Sie hat mich von Anfang an fasziniert, hat mich irgendwie berührt, ganz tief in mir drin. Vielleicht ist es das, was ich brauche, ich weiß nicht. Aber es wäre einen Versuch wert, meinst du nicht?“
Teil II
- Der Kampf -
Dublin, 12. September 2007, früh morgens
Er war noch da, als ich aufwachte. Die Feststellung war simpel, und doch kam mir die Tatsache vor wie ein Wunder. Zum ersten Mal hatte ich gestern in der abendlichen Stille nicht mit mir allein um den Schlaf gerungen, in der Nacht nicht nur meinen eigenen Atem gehört, in der morgendlichen Kühle mehr als nur meine Hände zum Wärmen gehabt. Noch traute ich mich nicht, die Augen zu öffnen und zu sehen, was jede Faser meines Körpers mehr als deutlich spürte. Aber ich wusste genau, dass heute Nacht so etwas wie ein Wunder geschehen war.
Denn er war immer noch da. Lag in meinen Armen wie ein Baby, tief schlummernd, unschuldig und sorglos. Ich spürte deutlich, wie sich seine Brust bei jedem seiner Atemzüge gegen meinen Unterarm drückte, während meine Nase sich wie ein vorwitziger Pfadfinder in seinen buschigen Haarschopf hineingewühlt hatte. Ich atmete seinen Duft und fühlte mich dabei wie ein Einbrecher, der vor dem Kühlschrank seines Opfers kniete und heimlich von der Eiscreme naschte. Noch nie war ich einem Mann so nahe gekommen; noch nie war ich so mutig gewesen und hatte mich gleichzeitig so hilflos gefühlt.
Frankfurt, im Sommer 1993
Es war ein Schock und eine
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