Im Schatten des Drachen
Flur, das Linoleum quietschte unter meinen Füßen. Auf dem endlosen Flur standen Tropfgehänge Spalier, ein Wagen voller Putzmittel markierte den Einsatzort der Reinigungskraft, und in einem der riesig hohen Fenster dorrte ein vergessener Blumenstrauß in seiner trockenen Vase vor sich hin. Eigentlich wollte ich nicht hier sein, wollte nicht diesen Geruch nach Krankheit und Desinfektionsmitteln einatmen, nicht diese seltsam bunten Blumenbilder an den sterilweißen Wänden sehen, deren hingepinseltes Farbspiel lebendiger wirkte als der alte Mann in seinem Bademantel, der mir mit seiner Gehhilfe entgegenschlurfte. Ich ging langsam, denn es war, als würde sich mein Bein an das erinnern, was meine Augen sahen.
Frankfurt, Universitätsklinikum, Ende Mai 2002
Er fühlte sich unendlich gedemütigt. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass so simple Dinge wie zur Toilette gehen, Rasieren oder einfach nur am Fenster zu stehen ein solch tiefes Gefühl der verzweifelten Scham auslösen konnten. Und des Behindertseins. Alles lief anders, nichts hatte mehr die gewohnte Geschwindigkeit, den bekannten Rhythmus. Sogar seine Atmung fühlte sich falsch an, und sein Herzschlag schien sich auf ein Minimum reduziert zu haben. Das lag an den starken Schmerz- und Beruhigungstabletten, die er so regelmäßig wie die Mahlzeiten einzunehmen hatte. Niemand hatte ihn gefragt, ob er das auch wollte, aber irgendwie hatte sich auch sein Willen auf nicht mehr als die reine Lebenserhaltung reduziert, und selbst wenn er versuchte, weiter als bis zur nächsten Stunde zu denken, legte sich ein grauer Schleier vor sein inneres Auge, der auch da war, wenn er weiter zurück als bis zum gestrigen Tag dachte.
Und gestern hatte der Arzt gesagt, es würde Zeit, dass er anfinge zu laufen. WIE DENN?! hatte er schreien wollen, doch sein betäubter Wille hatte ihn lediglich ein schwaches Nicken zustande bringen lassen. Seit heute morgen standen zwei Krücken neben seinem Bett, bereit, ihn über die Grenzen seines steifgewaschenen Bettlakens hinaus zu tragen. Wenigstens bis zur Toilette hatte er es schon geschafft. Dafür hatte er sich beim Rasieren geschnitten, weil er sich dazu hatte auf den Klodeckel setzen müssen, und ohne Spiegel war es schwierig, den Rasierer gleichmäßig über die seifige Haut fahren zu lassen. Er würde sich künftig trocken rasieren müssen. Wie ein alter Daddy, dachte er, der zu sehr zitterte, um die nackte, scharfe Klinge sauber über die Haut zu führen. Wie ein alter verdammter Krüppel!!!
Im Affekt schleuderte er eine der Krücken von sich, im hohen Bogen quer durch das Bad. Doch schon im nächsten Moment erkannte er seinen Leichtsinn - nur mit einer Krücke war er hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen. Es dauerte eine Ewigkeit und kostete ihn viel Geduld, die Krücke in dem glücklicherweise recht kleinen Raum wieder zu sich heranzuziehen. Aber in diesen qualvollen Momenten des Ringens mit sich selbst und den Umständen lernte er seine erste Lektion als - wie er sich jetzt nannte - Krüppel: er durfte nie mehr spontan reagieren, sich nie mehr seinen Bedürfnissen hingeben, denn sonst, das war ihm nun klar, würde er die Kontrolle verlieren - wieder.
Und was den Rasierapparat anging, so konnte Josefine ihm sicher einen guten Elektrorasierer kaufen. Er würde ihn nicht lieben, aber er würde ihn brauchen, wie diese verdammten zwei Stützen, die ihn rechts und links einrahmten wie ein verkrakeltes Kunstwerk, das irgendein Idiot vergessen hatte, von der Wand des Lebens abzuhängen.
Die Schnittwunde blutete noch immer, aber er unterließ es, ein Taschentuch dagegen zu pressen, weil er beide Hände brauchte, um sich auf den Krücken halten zu können. Sein Bein pulsierte schmerzhaft, überall und auch dort, wo es nicht mehr war, und das machte ihn fast rasend.
Wie den Schmerzen zum Trotz stand er nun völlig reglos am Fenster und starrte zum leuchtendblauen Maihimmel hinauf, wo weiße Haufenwolken wie riesige Wattebausche in rasendem Tempo vorbeizogen - das einzige, was sich in seiner nun behinderten Welt unbehindert schnell bewegte. Johannes kniff die Augen zusammen und schluckte die Tränen gewaltsam hinunter, als er das Klopfen an der Tür hörte. Er brauchte den Besucher nicht hereinzurufen, weil die Tür sich sowieso öffnen würde; als quasi bettlägeriger Patient hätte er auch nichts dagegen tun können. Wahrscheinlich brachte ihm eine dieser nervigen Krankenschwestern
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