Im Schatten des Drachen
trat ich an sein Bett heran. Er musste die Bewegung gespürt haben, denn im nächsten Moment öffnete er die Augen. Ihr klares Blau überschwemmte mich wie eine riesige Woge reinsten Meerwassers. Für den Bruchteil einer Sekunde funkelten sie mich voll unschuldiger, ehrlicher Freude an, doch dann wurde diese instinktive Regung von der Realität ertränkt, dem Wissen um die Ungeheuerlichkeit, die uns beide gleichzeitig verband und trennte.
Er drehte den Kopf weg und starrte auf die zugezogenen Gardinen. Ich schluckte und schmeckte das Salz in meiner Lunge beißen. Schließlich zog ich mir den nächsten Stuhl heran, ließ mich unbeholfen darauf nieder und fragte die jedem Kranken so verhasste Frage: „Wie geht es dir?“
„Ich nehme an, nicht viel besser als Dir, oder?“
Er sah mich wieder an, um Fassung und Gleichgültigkeit, vielleicht auch um Humor bemüht, aber hinter dieser gläsernen Maske sah ich deutlich den Schmerz und die Angst, die ihn umtrieben. Vorsichtig legte ich eine Hand auf seine Decke, eine stumme Bitte um Halt in diesem Strudel, der uns beide erfasst hatte.
„Paul, ich war gestern ... im Pub und ... Es tut mir leid, dass ich nicht ... Aber ich wusste nicht, was ... “
„Schon gut“, unterbrach er mich matt, „ es ist nicht schlimm, dass du gestern Abend abgehauen bist.“
Offenbar wusste er schon, dass ich gestern doch im Pub gewesen war. Hatte Tom hier auch nachgeholfen? Oder vorgesorgt? Nach kurzem Zögern und einer Menge Luftholens und Wiederausstoßens fügte er hinzu:
„Die Frage ist nur: warum bist du wiedergekommen?“
Ja, das war die Frage. Deren Antwort ich erst vor wenigen Stunden in mir gefunden hatte. War es jetzt schon der richtige Augenblick, ihm das zu sagen? Ich zögerte. Einen Augenblick zu lange, und dann war die Chance vorbei. Ein wenig unbeholfen zog ich den Geigenkasten auf meine Knie, öffnete ihn und hielt ihn ihm hin.
„Weil ich dir das noch bringen wollte.“
Erstaunt schaute er hinein; aber dann machte sich ehrliche Überraschung auf seinem Gesicht breit. Schließlich griff er vorsichtig hinein und zog die Rose hervor.
„Sie ist wunderschön“, flüsterte er und betrachtete verzückt den leuchtend gelben Blütenkopf, der sofort seinen betörenden Duft im ganzen Raum verströmte. Es war überflüssig, dass er wie ein Kind daran schnupperte, aber dennoch eine anrührende Geste. Sein Lächeln wirkte entspannter, als er den restlichen Inhalt des Kastens betrachtete.
„Du hast sie reparieren lassen?“
„Ja. Bei Malcons. Ich soll dich von ihm grüßen.“
„Danke, Matty. Das war nett von dir. Was bin ich dir dafür schuldig?“
Ich hatte längst beschlossen, die einhundert Euro, die ich Malcon mehr aufgedrängt denn gezahlt hatte, genauso unerwähnt zu lassen wie die Schuhe, die ich mir auf dem Weg ins Krankenhaus in einer Pfütze ruiniert hatte.
„Ein Lied, Paul. Mein Lied. Dieses Lied, das du gestern im Probenraum nach meiner CD gespielt hast, weißt du noch?“
Das Zucken seiner Mundwinkel verriet seine Erkenntnis, dass ich ihn belauscht hatte, aber offenbar war ihm das jetzt nicht wichtig.
Er drehte den Stiel der Rose zwischen seinen Fingern langsam hin und her, so als müsste er überlegen, ob der Preis angemessen wäre.
„Natürlich erinnere ich mich daran. Aber ich erinnere mich auch an den Rest des gestrigen Abends. Ich kann nicht ungeschehen machen, was du da gesehen hast, obwohl ich nicht weiß, wie viel das war.“
Ich war froh, dass er das Gespräch von selbst auf jenes Thema gelenkt hatte, denn von mir aus hätte ich ihn nicht fragen wollen - oder können.
„Willst du damit sagen, du weißt nicht, was mit dir passiert, wenn du ... einen Anfall bekommst?“
Sein Blick haftete noch immer auf der Violine in ihrem Kasten, während seine Nasenflügel mit den gelben Blütenblättern wie verklebt schienen. Offenbar versuchte er, sich hinter den beiden Dingen zu verstecken, die er so sehr liebte. Ob vor mir oder vor sich selbst, das wusste ich nicht.
Dann entschloss er sich zu einer Antwort.
„Also, prinzipiell weiß ich das schon. Ich spüre ja meistens, wenn er kommt, und ich spüre auch, ob es ein großer, ein so toll genannter ‚Grand-mal’ oder ein weniger schlimmer Anfall wird. Aber in dem Moment kann ich meistens sowieso nichts mehr machen, mich nur noch absichern, so gut es geht, und mich dann ... einfach hingeben. Das klingt wie Sex, aber es ist viel schlimmer.“
Er sagte das alles in einem sehr ruhigen, abgeklärten
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