Im Schatten des Elefanten
zugeben, daß der Herr hier ein anderer Fall ist …«
3
Meine Mutter hat schon die Kelle Zichorienbrühe auf den Teller geschöpf. Auch auf den von Rußgesicht. So fahren wir nun mit dem Löffel vom Teller zum Munde vierbis fünfmal hin und her, – und die Suppe ist zu Ende.
Es hat währenddessen Schweigen geherrscht: ein paar Minuten Ruhe. Ein jeder von uns hat sich in sich selber verschlossen: über seine Suppenschüssel gebeugt, hat Großvater sich wieder – wie es uns immer scheinen will – in seinen riesigen Dimensionen verschlossen; und vielleicht ist ein jeder von uns auf einen eigenen Gedanken gekommen. Wir fragen uns danach mit unseren Blicken, die sich aufs neue begegnen. Was hast du gedacht? Was hat er gedacht? Was habt ihr gedacht? Und ich, was habe ich gedacht? Was haben wir gedacht?
Also fragend, sieht meine Mutter unseren Gast an. Aber die Fragen huschen, eine nach der anderen, über ihr Antlitz, – wunderliche Fragen werden uns nie über die Lippen kommen; wir finden uns alle am Ausgangspunkt wieder, und meine Mutter sagt zu unserem Gast:
»Vielleicht habt Ihr die Sardelle von heute sogar dabei …«
Unser Gast ist wieder ganz und gar Lächeln. »Ei nun?« antwortet er. »Gewiß habe ich meine Sardelle von heute dabei.«
»Wollt Ihr sie denn nicht essen?« sagt meine Mutter zu ihm. »Tut Euch keinen Zwang an, wenn Ihr sie essen wollt …«
»Freilich. Tut Euch keinen Zwang an«, sagt der Mann meiner Mutter.
»Oh, ich bin hocherfreut«, antwortet der Gast, »sie einmal nicht essen zu müssen.«
Dem Mann meiner Mutter erstickt die Stimme. »Wir wären hocherfreut zu sehen, wie Ihr sie eßt«, sagt er zu ihm mit erstickter Stimme.
»Dränge doch nicht«, sagt meine Mutter zu ihrem Gatten. »Du kannst ihn doch nicht etwa zwingen, sie zu essen, damit du das Vergnügen hast zu sehen, wie er sie ißt.«
»Wäre es ein Vergnügen für ihn zu sehen, wie ich sie esse?« fragt der Gast.
»Siehst du, er fühlt sich schon verpflichtet«, sagt meine Mutter zu dem Gatten. Und zu dem Gast: »Entschuldigung. Entschuldigung. Einen Mann habe ich, der wie ein Kind ist.«
»Ich sage ja nicht, daß er sie unbedingt essen muß«, sagt der Mann meiner Mutter.
»Nicht?« fragt der Gast. »Wolltet Ihr etwas anderes sagen?«
»Hört nicht auf ihn«, sagt meine Mutter zu ihm. »Er weiß nie, was er will.«
»Ich weiß nicht, was ich will?« sagt der Mann meiner Mutter.
»Vielleicht weiß er es«, sagt der Gast. Er lächelt gespannt, schaut meine Mutter an, auch hat er sich die Jacke aufgeknöpf. »Vielleicht wollte er etwas anderes sagen«, setzt er lächelnd hinzu, »er weiß vielleicht doch, was er sagen wollte.« Und mit der Hand sucht er die Innentaschen seiner Jacke ab: gespannt lächelnd. »Nein, er weiß es nicht«, sagt meine Mutter zu dem Gast. »Du weißt es nicht«, sagt sie zu dem Gatten. »Glaubst du wahrhafig?« fragt sie der Gatte. Der Gast betrachtet sie beide, ist auf sie gespannt und kann sich nicht dazu entschließen, die Hand aus der Tasche zu nehmen, worin er sie stecken hat. »Vielleicht ist es so«, sagt der Mann meiner Mutter. Er hat den Blick vor dem meiner Mutter gesenkt, und er hat auch das Haupt geneigt. »Vielleicht ist es so, wie sie sagt«, setzt er hinzu, mit erstickter Stimme. »Vielleicht weiß ich nie, was ich will«, sagt er. Hier zieht nun der Gast die Hand heraus, und ein dünnes Päckchen hat er zwischen zwei Fingern. Es ist von einem Papier, das Fettflecken hat: aus einem alten Schulhef, von Kinderhand beschrieben – mit Wörtern, welche verblaßt sind; aber es ist so dünn, daß eigentlich nichts oder nur ein Zahnstocher darin enthalten sein könnte. Der mit dem lachenden Rußgesicht hält es zwischen Daumen und Zeigefinger, und er hebt es hoch, scheint es öffnen zu wollen. »Seht mal an«, sagt meine Mutter zu ihm. »Warum sollte er wollen, daß Ihr die Sardelle eßt? Er redet nur, um zu reden …«
Da läßt Rußgesicht die Hände beide wieder sinken, und mit der einen Hand, in der er es hält, klatscht er das Päckchen auf den Rücken der anderen, spielt so einige Sekunden, dann läßt er das Päckchen auf dem Tisch, vor seinem Teller, liegen.
Der Mann meiner Mutter räuspert sich. »Hemhem!« Er räuspert sich mit einer gewissen Erregtheit und erhebt wieder das Haupt, scheut nicht einmal mehr den Blick meiner Mutter. Ja, man möchte sogar meinen, er sucht ihn. Sucht er ihn?
Der Großvater sucht aber auch. Hat Mund und Bart emporgereckt, hat das ganze
Weitere Kostenlose Bücher