Im Schatten des Feuerbaums: Roman
ob sie beim Tod ihrer Mutter dabei gewesen wäre, hatte sie ein ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt und sachlich erklärt, dass es in der Deutschen Klinik in Valparaíso zwar eine Spezialabteilung für Typhusinfektionen gab, die erste und einzige des Landes, aber dass für ihre Mutter trotzdem jede Hilfe zu spät gekommen wäre. Sie hatte die Schulter gezuckt und dann hinzugefügt: »Es gibt hier auch die erste Frauenabteilung. Und hier ist auch erstmals in Chile eine Operation der akuten Appendizitis vorgenommen worden.«
Aurelia wälzte sich im Bett. Sie wusste nicht, was eine Appendizitis war, und noch weniger wusste sie, was Victoria hinter der kühlen Fassade verbarg. Sie ahnte, dass es mehr war als bloß feministische und politische Fakten, aber dass es schwer sein würde, zu ihr durchzudringen. Noch schwerer war zu entscheiden, was sie tun sollte – darauf zu bestehen, dass sie mit ihr nach Patagonien kam, oder ihr nach Santiago zu folgen …
Sie hatte keine Entscheidung getroffen, als sie doch noch der Schlaf überwältigte, begleitet von wirren Träumen und häufigem Aufschrecken. Als sie wieder einmal erwachte, schmerzte der Kopf, es schmeckte säuerlich in ihrem Mund – und Victoria hockte an ihrer Bettkante.
Mit einem Schrei fuhr Aurelia hoch. Ihr Blick ging zum Fenster, noch floss kein Morgengrauen durch die Ritzen.
Im ersten Moment dachte sie, Victoria fühlte sich einsam und suchte nach Gesellschaft. Doch dann erkannte sie, dass diese sich nicht zu ihr ins Bett legen, sondern sie vielmehr selbst daraus ziehen wollte. Ihre Haare waren wieder streng frisiert – und sie trug das gleiche schwarze Kleid wie gestern.
»Los!«, befahl sie. »Wenn du nicht erneut die Efeuleiter nach unten klettern willst, ist jetzt die beste Gelegenheit, das Haus unbemerkt zu verlassen.«
Aurelia rieb sich schlaftrunken die Augen. »Was hast du denn vor?«
»Ich habe dir doch gestern von meinen Plänen erzählt.«
»Du willst heute schon aufbrechen? Nach Santiago?«
»Wohin denn sonst? Worauf sollte ich denn noch warten?«
»Aber …«
»Im Übrigen lebt eine Freundin meiner Mutter in Santiago … Wir können bei ihr wohnen – und von dort kannst du deinen Eltern einen Brief schreiben und ihnen alles erklären. Und fürs Erste habe ich ein wenig Geld aus der Kasse der Apotheke genommen.«
Aurelia war sich sicher, dass Elvira und Ludwig nichts davon wussten. Gott, was sollte sie tun?
Sie zog die Decke vor ihr Gesicht, als müsse sie sich schützen – vor einer fremden Welt, in der es zwar viel zu entdecken, aber ebenso viele Bedrohungen gab, vor allem jedoch auch vor Menschen wie Victoria, die ihr Leben planten, als gelte es, eine Rechenaufgabe zu lösen, und keinerlei Gefühle wie Angst oder Vorsicht erkennen ließen. Sie konnte sie doch nicht begleiten? Oder konnte sie doch?
»Santiago …«, murmelte sie, und plötzlich dachte sie nicht an eine große, fremde, gefährliche Stadt, sondern an Tiago, der wie diese Stadt hieß, und an die Escuela de Bellas Artes, wo man den ganzen Tag malte. Sie dachte auch an Patagonien, die Schafe, den Wind – und anders als während der Reise überkam sie kein Heimweh, sondern ein Gefühl von Langeweile. Welche Motive gab es dort auch schon, die sie noch nicht gemalt hatte!
Zögerlich schob sie die Decke zurück und erhob sich.
»Nun beeil dich!«, drängte Victoria.
Aurelia fuhr sich durch die Haare und flocht sie dann schnell zu Zöpfen – ungleichmäßig und schief. Sie schlüpfte in ihre Kleidung und nahm ihre Mappe. Ihre Hände zitterten.
Ein Fehler … vielleicht machte sie einen schrecklichen Fehler.
»Wie weit ist es überhaupt bis Santiago?«
Den Namen der Stadt auszusprechen fühlte sich trotz aller Bedenken gut an.
»Mit der Postkalesche dauert es vierundzwanzig Stunden. Aber das ist sehr unbequem – die Landstraße liegt ständig unter Staub oder Morast. Mit dem Zug ist es zwar teurer, aber schneller.«
Aurelia war noch nie Zug gefahren, hatte jenes dampfende Ungeheuer nur einmal in Punta Arenas von weitem gesehen. Ihr Mut sank wieder.
»Und wer ist die Freundin deiner Mutter, bei der wir leben sollen?«
Victoria verdrehte die Augen. »Es ist jetzt keine Zeit, groß Fragen zu stellen. Entweder du kommst mit oder nicht.«
Sie ging zur Tür, öffnete sie langsam, trat vorsichtig in den Flur. Die Eichendielen knirschten, ansonsten war nichts zu hören. Aurelia folgte ihr zögernd, aber verharrte an der Schwelle.
Victoria hatte eben die
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