Im Schatten des Feuerbaums: Roman
eigentlich hasste sie nichts mehr, als wenn Elvira in ihr Zimmer kam und ihre Sachen durchwühlte. Allerdings hatte Aurelia auch die Briefe von Nora van Sweeten gelesen, und Victoria hatte zudem schon eine Ahnung, was sich in der Mappe befand.
Sie wurde nicht enttäuscht. Noch zu gut konnte sie sich daran erinnern, dass Aurelia damals in Patagonien bei jeder Gelegenheit gezeichnet hatte. Ihr selbst lag es nicht, für irgendetwas lange stillzusitzen, höchstens zum Lesen, aber Aurelia war glücklich, wenn sie ihren Kohlestift in der Hand hielt. Einige der Bilder, die Victoria durchblätterte, waren mit einem solchen gezeichnet und zeigten, wie sich ihre Technik und Beobachtungsgabe verfeinert hatten. Andere waren mit ganz besonderen Farben gemalt worden – keine Wasser- oder Ölfarben, wie Victoria vermutete, sondern jene Erdfarben, mit denen Aurelias Mutter Rita die Schafwolle färbte oder die Stoffe, die sie daraus webte, bedruckte. Es waren kräftige Brauntöne darunter, aber auch zarte Pastellfarben, Kohlschwarz und lichtes Blau. Da Erde unmöglich blau sein konnte, musste sie diesen Farbton auf andere Weise gewonnen haben, vielleicht aus Beeren oder Blumen. So oder so waren die Bilder faszinierend anzuschauen, fingen sie doch einerseits das sturmumtoste Patagonien vortrefflich ein und verfremdeten die Landschaft aufgrund des originellen Pinselstrichs zugleich ein wenig, so als wäre sie ein Traumgebilde, das sich jederzeit auflösen konnte. Victoria hatte sich in Patagonien nicht sonderlich wohl gefühlt, doch diese Bilder weckten ihre Sehnsucht nach einem Ort der Stille und Einsamkeit und Weite. Ein Ort, wo sie sich der Trauer um die Eltern hingeben, aber auch neue Kraft schöpfen konnte …
»Ach, hier bist du!«
Sie fuhr herum und sah, dass Aurelia zurückgekommen war – ihre offenen Haare fielen noch wirrer über den Rücken als vorhin, das Gesicht war gerötet, ihre Augen blitzten stolz. »Ich habe getan, was du gesagt hast«, erklärte sie mit hörbarem Triumph, »als ich das Paket mit den Medikamenten abgeholt habe, war der Arzt zwar misstrauisch, aber als ich ihn angelächelt habe, hat er mir geglaubt, dass du mich geschickt hast.«
Victoria runzelte ihre Stirn – für gewöhnlich verabscheute sie Frauen, die allein auf die Macht ihres Lächelns und ihrer Schönheit setzten. Allerdings konnte sie Aurelia kaum vorwerfen, alles getan zu haben, um ihren Auftrag zu erfüllen.
»Und zum Treffpunkt beim Denkmal von Arturo Prat habe ich auch gefunden. Der Mann war schon dort, ich habe ihm die Medikamente übergeben, und …«, sie atmete tief durch, »… und jetzt müssen wir endlich darüber reden, ob du mit nach Patagonien kommst!«
Victoria unterdrückte ein Seufzen. Anstatt etwas zu erwidern, vertiefte sie sich wieder in Aurelias Zeichnungen. »Die sind wirklich gut«, stellte sie fest.
Aurelia trat zu ihr und nahm ihr sanft die Mappe aus den Händen. »Das hat heute schon jemand gesagt«, sagte sie leise.
»Dann hatte er recht. Du solltest Malerei studieren.«
»Studieren? Ich?«
Aurelia blickte sie zweifelnd an – und für gewöhnlich verachtete Victoria auch diesen Ausdruck bei Frauen. »Als ob du nicht weißt, dass du gut bist!«, zischte sie.
Aurelia schwieg betroffen und zuckte hilflos die Schultern.
»Kennst du Pablo Burchard?«, fragte Victoria unvermittelt. »Das ist ein bekannter Maler in Valparaíso, und er war ein guter Bekannter unserer Familie. Er hat ein Ferienhaus in Quintero am Meer und hat sich häufig dorthin zurückgezogen, um zu malen. Wobei er eigentlich immer und überall gemalt hat. Mein Vater hat sich oft darüber lustig gemacht, dass er mitten auf einer Bahnstrecke ausstieg, weil ihn ein bestimmtes Motiv fesselte, und dass er bei der Rückfahrt dann mehrmals den falschen Zug nahm.«
Wehmut stieg in ihr auf, als sie an ihren Vater dachte, der sie stets zum Lachen gebracht hatte – nicht nur, indem er Anekdoten wie diese erzählte, sondern verschiedene Späße mit ihr trieb. »Nun, wie auch immer«, fuhr sie rasch und nüchtern fort, »Pablo Burchard gehört zu den Gründern der Kunstakademie in Santiago. Dort unterrichtet er auch.«
»Die Escuela de Bellas Artes«, sagte Aurelia, und ihre Stimme klang ehrfürchtig. »Die von Pedro Lira geleitet wird. Aber ich bin doch nur …«
Victoria verdrehte die Augen, weil sie ahnte, was kommen würde. »Du bist doch nur eine Frau, willst du sagen?«, unterbrach sie sie scharf. »Na und? Maria Rotzoll war auch eine
Weitere Kostenlose Bücher