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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Treppe erreicht und winkte sie zu sich. »Du musst ganz leise sein!«, befahl sie.
    Aurelia schluckte. Noch war es Zeit, sich anders zu entscheiden, Elvira und Ludwig Bescheid zu geben – oder Victoria allein ihres Weges ziehen zu lassen. Doch trotz der Müdigkeit, trotz aller Zweifel und Gewissensbisse durchströmte etwas ihre Adern, was sie nicht kannte: wilde, ungezähmte Abenteuerlust.
    Sie nickte bekräftigend. »Also gut«, sagte sie – eher zu sich selbst als zu Victoria –, dann folgte sie ihr auf Zehenspitzen die Treppe hinunter.

3. Kapitel
    A ls sie Valparaíso verließen, musste Victoria wieder an ihre Eltern denken, und diesmal konnte sie die Erinnerungen nicht rechtzeitig unterdrücken. Tränen verschleierten ihren Blick. Das letzte Mal, als sie mit dem Zug gereist war, waren Emilia und Arthur an ihrer Seite gewesen. Sie hatte sich um nichts Sorgen machen müssen, vielmehr vertrauen können, dass sie das Beste für sie wollten und guthießen, was immer sie tat. Die Zukunft war ein weites, helles Land voller Wünsche und Träume gewesen, die sich ganz mühelos erfüllen würden. Heute hatte Victoria stattdessen das Gefühl, dass sie alles, was sie vom Leben wollte, erkämpfen und ertrotzen müsste. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und schluckte die Tränen hinunter. Dann würde sie eben kämpfen, warum auch nicht? Sie war stark genug, auch ohne ihre Eltern.
    Sie stieß Aurelia an, die fasziniert aus dem Fenster starrte und ganz in den Anblick der vorbeiziehenden Landschaft versunken war.
    »Sieh doch nur!«, rief Victoria empört und deutete auf die vielen Mitreisenden, armselige Menschen großteils, hohlwangig, graugesichtig, mit Lumpen gekleidet.
    »Was?«, fragte Aurelia verwirrt.
    »Der Staat drückt sich vor seiner Verantwortung!«, zischte Victoria. »Er steckt all sein Geld in den Bau von neuen Bahnstrecken, aber ordentliche Wohnhäuser gibt es kaum. Sie alle zieht es nach Santiago, weil sie in Valparaíso keine Zukunft sehen. Aber in Santiago selbst ist die Situation ähnlich katastrophal. Es gibt so viele Arbeitslose, und die Leute wohnen in schäbigen … Sag, hörst du mir überhaupt zu?«
    Aurelias Blick war wieder zum Fenster gehuscht. Die wogenden Weizenfelder, die sanften Hügel und die vielen Weinberge fesselten ihre Aufmerksamkeit ungleich mehr als die Armut im Zug.
    »Natürlich höre ich dir zu«, erklärte sie allerdings schuldbewusst, »und ich habe mir gemerkt, dass du Feministin bist und obendrein Sozialistin, auch wenn ich nicht genau weiß, was das eine mit dem anderen zu tun hat.«
    Victoria runzelte die Stirn, erklärte jedoch nachsichtig: »In der bürgerlichen Frauenbewegung rufen die Frauen oft zum Kampf gegen die Männer auf. In der sozialistischen Frauenbewegung verbünden sie sich mit den Männern, zumindest mit den Arbeitern, um mit ihnen gemeinsam gegen den Kapitalismus …«
    Sie verstummte, doch diesmal nicht, weil Aurelia unaufmerksam gewesen wäre. Kaum eine Stunde war es her, dass sie Valparaíso verlassen hatten, als der Zug plötzlich einen Ruck machte. Die Räder quietschten, ehe sie abrupt zum Stillstand kamen. Victoria wurde in den Sitz gepresst, während Aurelia, die ihr gegenüber in Fahrtrichtung saß, nach vorne kippte und fast auf sie fiel. Geistesgegenwärtig streckte Victoria die Hände aus, um ihren Sturz zu bremsen. Andere Passagiere hatten nicht so viel Glück. Besonders die, die stehen mussten, weil sie keinen freien Sitzplatz mehr ergattert hatten, wurden quer durch den Waggon geschleudert. Wehklagen ertönten, Fluchen und Angstschreie, die alsbald, nachdem jeder halbwegs unverletzt wieder seine Position eingenommen hatte, in Tadeln und Getuschel übergingen, warum der Zug denn nicht weiterfuhr. Wild gingen die Stimmen durcheinander. »Sollen wir hier ewig stehen?« – »Vielleicht hat es einen Unfall gegeben?« – »Wir haben für die Fahrt teuer bezahlt, also los jetzt!«
    Aurelia machte sich in ihrem Sitz so klein wie möglich, Victoria aber erhob sich und öffnete eine der Fensterluken. Obwohl sie befürchtete, stecken zu bleiben, zwängte sie ihren Kopf hindurch, sah jedoch nur auf ein Stück Wald aus Pappeln und Magnolien.
    »Ich kann nicht erkennen, warum der Zug stehengeblieben ist.«
    Aurelia tastete nach ihrer Hand. »Setz dich lieber! Gewiss geht es gleich weiter, und …«
    Victoria spürte, wie die Gefährtin zusammenzuckte, als plötzlich Gebrüll ertönte. Diesmal kam es nicht vom Inneren des Zugs, sondern von

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