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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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genauer in Augenschein nahmen: Er war älter, als sie gedacht hatte, gewiss schon über vierzig, doch die Last der Jahre schien ihn nicht zu beugen, sondern nur zäher zu machen. Wahrscheinlich war er sehr groß, wenn er aufrecht stand; seine einstmals blonden Haare waren weiß geworden wie der Wüstensand. Die Haut war nicht gleichmäßig von der Sonne gebräunt, sondern von vielen Flecken übersät. Grimmige Entschlossenheit stand in seinem Blick, als er sich weiter um die Frau kümmerte, und etwas gefiel Victoria daran. Vielleicht irrte sie sich, aber dieser Blick schien der eines Menschen zu sein, der zwar ohne Träume und Illusionen auf die Welt sah, aber dennoch nicht völlig erkaltet war, vielmehr zur Wut fähig – Wut über sinnloses Sterben und Ungerechtigkeit.
    »Und wer sind Sie?«, fragte er endlich, nachdem er den Blutfluss etwas gestillt hatte. Die Frau stöhnte nicht länger und wand sich auch nicht mehr.
    »Victoria Hoffmann«, antwortete sie. »Ich habe Ihre Annonce gelesen – und bin deswegen hierhergekommen. Ich bin eine … ausgebildete Krankenschwester.« Genau betrachtet, war das eine Lüge, aber sie setzte darauf, dass Cortes nicht im Krankenhaus von Santiago nachfragen würde.
    »Meine Güte!«, stieß er aus. »Ich habe die Annonce vor über einem halben Jahr aufgegeben und nicht mehr damit gerechnet, dass sich jemand darauf meldet.«
    Victoria konnte nicht sagen, ob er erleichtert, überrumpelt oder einfach nur verwirrt war. Sie blieb abwartend stehen, aber er sagte kein einziges Wort mehr.
    Auf dem Boden lag die Kleidung, die er wohl abgelegt hatte, ein bolivianischer Poncho aus Lamawolle, daneben Handschuhe aus Schweinsleder. Sie bückte sich schnell, nahm den Poncho und rollte ihn zusammen. Dann lagerte sie ihn unter den Füßen der Frau, so dass diese höher lagen als der restliche Leib. Ihre nackten Beine waren mit blauen Adern überzogen wie mit Gewürm.
    Salvador Cortes ließ sie gewähren. »Ich habe mich eigentlich damit abgefunden, dass niemand für mich arbeiten will. Am Ende bin ich zum Schluss gekommen, dass das auch besser so ist. Die Welt hier ist zu brutal für eine zarte Frau.«
    Er musterte sie erneut, und Victoria straffte den Rücken. Sie war nicht besonders groß und auch sehr schmal gebaut, aber noch nie hatte sie jemand als »zart« bezeichnet!
    Ihr Ehrgeiz war geweckt, ihm das Gegenteil zu beweisen. Sie trat zum Kopfende des Bettes und blickte auf die Frau herab. »Sie hat eine missglückte Abtreibung hinter sich, nicht wahr?« Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung, und ehe er antworten konnte, fuhr sie fort: »Wie ist sie vorgegangen? Hat sie einen Kräutersud aus Borretsch, Wermut, Raute und Petersilie getrunken? Oder mit Waschpulver versetztes Zementwasser? Ich glaube es eigentlich nicht. Dann wäre mehr Erbrochenes zu sehen. Ich nehme also an, sie hat die Abtreibung mit einer Bambusrute vorgenommen. Hat fünf oder sechs Stücke zusammengebunden, die Rinde entfernt, mit einem Messer angespitzt und in Seifenwasser gekocht. Dann hat sie sich einen Spiegel zwischen die Beine gehalten und immer wieder die Rute in ihren Leib gestoßen, bis sie zu bluten begann. Sie hat die Rute am Oberschenkel festgebunden, während die Spitze in ihrer Gebärmutter steckte, und ist stundenlang herumgegangen, um einen Abort auszulösen. Doch die Blutungen, die einsetzten, hörten nicht wieder auf, und dazu kam hohes Fieber.«
    Victoria hatte gleichmütig gesprochen, aber als sie sah, wie in Cortes’ Miene Anerkennung aufblitzte, konnte sie sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen.
    »Wenn du weißt, was sie getan hat, weißt du auch, dass wir beide eigentlich nicht hier sein dürften«, meinte er und duzte sie nun ganz selbstverständlich.
    Victoria nickte. Abtreibung galt in Chile als ein Verbrechen, das geahndet wurde – und eine Strafe drohte auch all jenen, die nur dabei halfen. Wenn ein Arzt eine durchführte, um das Leben der Mutter zu retten, oder im Falle, dass sie geisteskrank oder vergewaltigt worden war, ließen Richter Nachsicht gelten – ansonsten standen bis zu vier Jahre Gefängnis darauf.
    »Ich weiß, was drohen könnte«, murmelte sie, »aber ich glaube nicht, dass das an diesem Ort irgendjemanden sonderlich interessiert.«
    Der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht. »Da hast du recht. Aber ich wollte sichergehen, dass du dir darüber im Klaren bist, was du tust.«
    »Das bin ich für gewöhnlich immer«, gab sie stolz

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