Im Schatten des Feuerbaums: Roman
draußen, und es kündete auch nicht von Ungeduld und Ärger, sondern schlimmen Schmerzen.
»Was ist denn dort hinten los?«, stieß sie aus.
Sie zog ihren Kopf zurück, sah, wie nun auch andere Passagiere neugierig in die Richtung starrten, aus der das Geschrei kam, die ersten von ihnen sogar den Zug verließen, um nachzuschauen, und raffte ihr Kleid, um ihnen zu folgen.
»Bleib hier!«, rief Aurelia ihr nach. »Du kannst doch nicht einfach den Zug verlassen!«
Victoria achtete nicht auf sie, sondern hatte schon den Ausstieg erreicht und sprang wendig auf die Gleise. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Aurelia ihr zwar nur widerstrebend, aber eben doch gefolgt war.
Also ist sie nicht so feige, wie es manchmal den Anschein hat, ging ihr befriedigt durch den Kopf.
Dann achtete sie nicht länger auf die Gefährtin, erkannte vielmehr nun, was den Zug aufgehalten hatte: Mehrere Arbeiter, allesamt mit den üblichen graublauen Gewändern bekleidet, waren beschäftigt gewesen, die Gleise auszubessern. Dabei war einer wohl schwer verletzt worden, lag am Boden und krümmte sich. Der Aufseher der Arbeiter hatte offenbar eben befohlen, ihn einfach zur Seite schaffen zu lassen, damit der Zug ungestört weiterfahren konnte; seine Kumpane dagegen weigerten sich, zu gehorchen, und pochten auf sofortige ärztliche Versorgung.
Victoria ballte ihre Hände zu Fäusten.
»Was … was geht hier vor?«, stammelte Aurelia.
»Es wird wieder einmal auf die Rechte der Arbeiter getreten – das geht hier vor.«
Die übrigen Fahrgäste sahen das anders, gaben nicht den Arbeitern, sondern dem Aufseher recht, drängten auf Weiterfahrt und murrten: »Nun schafft ihn endlich beiseite!«
Victoria wandte sich wutentbrannt an den Erstbesten. »Wie können Sie das nur sagen! Wenn man ihn hier liegen lässt, wird er nie einen Arzt zu Gesicht bekommen, sondern wahrscheinlich sterben! Nur wenn sie den Zug aufhalten, können die anderen Arbeiter ertrotzen …«
Rotgesichtig plusterte sich der Passagier, den sie angeschrien hatte, vor ihr auf, doch ehe er zu einer ungeduldigen Entgegnung ansetzte, zog Aurelia sie schon hastig mit sich fort.
»Das ist doch nicht deine Sache! Irgendjemand wird sich schon um ihn kümmern!«
Victoria riss sich heftig von ihr los. »Von wegen! Die Arbeitsbedingungen bei der Eisenbahn sind erbärmlich. Wusstest du, dass es bei den chilenischen Schienenarbeitern fünfundzwanzigmal mehr Unfälle gibt als bei ihren Arbeitskameraden in Deutschland? Ständig erleiden sie schwere Brüche. Ihre Lebenserwartung ist beschämend niedrig.«
»Aber das ist doch nicht deine Sache …«, wiederholte Aurelia, und diesmal klang es fast flehentlich.
Doch Victoria hatte sich schon so in Rage geredet, dass sie nicht einfach schweigen konnte. »Ein Skandal ist das alles! Trotz der vielen Gefahren haben die Eisenbahngesellschaften dieses Jahr beschlossen, die Löhne zu kürzen, um das Defizit des Unternehmens zu verringern!«
Mittlerweile hatte sie die Aufmerksamkeit von mehr als nur dem einen Fahrgast auf sich gezogen. Ein Kreis von Menschen hatte sich um sie gebildet, die sie abschätzend, verächtlich oder einfach nur überdrüssig anstarrten.
Aurelia griff erneut nach ihrer Hand. »Bitte, lass uns zurück in den Zug gehen …«
Victoria dachte gar nicht daran. Unwirsch entzog sie sich ihr, drängte sich an den Mitreisenden vorbei und hastete die Gleise entlang auf den verletzten Arbeiter zu. Immer noch krümmte und wand er sich, wenngleich ihm die Kraft fehlte, so laut zu schreien wie zuvor. Sein Oberschenkel blutete; gelblich stach ein gebrochener Knochen aus der Haut. Seine Genossen umstellten ihn mit hilflosen Gesichtern. Den Zug aufzuhalten war ihre einzige Chance, ärztliche Hilfe zu ertrotzen, aber auch mit gutem Willen ließ sich hier in der Gegend wohl nicht so schnell ein Arzt finden. Eben kamen nun andere Männer hinzu – der Lokführer, der Schaffner, vor allem aber die Kohlearbeiter aus dem Zug. Victoria hatte keine Ahnung, wie man sie dazu gezwungen hatte – erbärmlich waren auch ihre Arbeitsbedingungen, und eigentlich sollte man erwarten, dass sie sich mit einem unglücklichen Schienenarbeiter solidarisierten. Doch offensichtlich waren sie bereit, dem Befehl des Lokführers zu gehorchen, den Verletzten notfalls mit Gewalt von den Gleisen zu schaffen und all jene zurückzuschlagen, die sich ihnen dabei in den Weg stellten.
Die Arbeiter ballten ihre Hände zu Fäusten – ein Zeichen, dass sie nicht
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