Im Schatten des Feuerbaums: Roman
kampflos weichen würden, doch ehe das Gerangel begann, hob Victoria trotzig das Kinn und erklärte mit lauter Stimme: »Kann ich helfen? Ich verstehe etwas von Medizin!«
Während sie es noch selbstbewusst sagte, überlief ein kalter Schauder ihren Rücken. Aus Nora van Sweetens Büchern hatte sie zwar viel gelernt, aber eben nur graue Theorie. Sie hatte in ihrem Leben viele Kranke gesehen, aber die einzige, die sie je selbst gepflegt hatte, war ihre Mutter gewesen. Der Knochenbruch dieses Mannes sah sehr kompliziert aus: Weder wusste sie, wie sie die Knochen genau einrenken, noch wie sie die Fleischwunde behandeln sollte.
Trotzdem unterdrückte sie mit aller Macht ein Beben, als sich der Aufseher zu ihr umdrehte und sie erstaunt musterte. Ob der energischen Stimme hatte er wohl eine Furie erwartet, kein schmales, blasses Mädchen, dem man sein junges Alter ansah. Spöttisch lachte er auf.
»Dieser Mann windet sich unter Schmerzen, und Sie lachen?«, zischte Victoria.
Das Lachen verstummte, der Blick wurde verdrießlich. Erst jetzt bemerkte Victoria, dass Aurelia erneut an ihre Seite geeilt war und sie mit sich zu ziehen versuchte. »Ich bitte dich …«
»So lass mich doch!«
Der Lokführer stemmte indes seine Hände in die Hüften.
»Nun gut, wenn Sie dem Mann helfen wollen, dann können Sie das gerne tun und bei ihm bleiben. Ich habe gewiss nichts dagegen, wenn der Zug nur endlich weiterfährt.«
Er löste seine Hände von den Hüften, ließ eine hochschnellen, um ein Zeichen zu geben, und ehe sich’s Victoria versah, gingen drei der Kohlearbeiter auf die anderen los, um sie von den Gleisen zu drängen, während zwei weitere den Verletzten packten, hochzerrten und ihm einen Stoß versetzten, woraufhin er mit verzweifeltem Gebrüll die Böschung hinabrollte. So überrascht sie den plötzlichen Angriff auch hingenommen hatten – nun wehrten sich die Schienenarbeiter, teilten Faustschläge aus, nahmen andere Köpfe in den Schwitzkasten, bissen, fluchten, kratzten.
Victoria duckte sich instinktiv, ließ sich ihre Angst jedoch nicht lange anmerken.
»Sie Schwein!«, schrie sie schrill.
Der Lokführer tat, als würde er sie nicht sehen, deutete den Passagieren an, dass es gleich weitergehen würde, und bestieg den Zug. Unterdessen drohten die Schienenarbeiter trotz Gegenwehr zu unterliegen. Weitere Männer waren über die Böschung gestoßen worden und kamen neben dem Verletzten zu liegen. Der rührte sich nicht mehr, schrie auch nicht – vielleicht, weil ihn eine gnädige Ohnmacht erlöst oder er die Tortur nicht überlebt hatte.
Victoria straffte den Rücken und stellte sich mitten auf die Gleise, um notfalls selbst den Zug aufzuhalten. Aurelia schrie auf.
»Kümmern Sie sich um den Verletzten!«, verlangte Victoria kalt.
»Nun halt endlich dein Maul, Mädchen!«, erwiderte der Lokführer nur. Währenddessen kam der Aufseher der Arbeiter auf sie zugehastet, packte sie am Arm und hatte wohl vor, auch sie die Böschung hinunterzustoßen. Victoria war schwächer als er – aber ungleich wendiger. Sie duckte sich erst, drehte sich dann einmal im Halbkreis, und ehe der Mann des sich windenden Mädchens Herr werden konnte, hatte sie ihn in den Daumen gebissen. Er schrie auf, als Blut tropfte.
Victoria stieg ein Lachen hoch, doch es blieb ihr prompt in der Kehle stecken: Als sie sich erneut ducken wollte, stolperte sie und fiel der Länge nach auf die Gleise – genau in dem Augenblick, da der Zug langsam anrollte.
Aurelia hörte gar nicht mehr zu schreien auf und verstummte erst, als sich der Aufseher breitbeinig vor Victoria stellte. Er riss die blutende Hand in die Luft, um sie zu schlagen, und Victoria glaubte schon zu fühlen, wie die Faust auf sie niederdonnerte und ihr Fleisch zerriss. Sie konnte sich nicht aufrappeln, nicht einmal zur Seite drehen oder den Kopf mit ihren Händen schützen. Nur die Augen konnte sie schließen.
Ihr ganzer Körper spannte sich an, doch der Schlag blieb aus. Als sie verwirrt blinzelte, nahm sie zwei Schatten wahr, die von rechts und links kamen und den Aufseher rechtzeitig von ihr zurückrissen, ehe er auf sie einprügeln konnte.
Ehe Victoria erfasste, wer sie gerettet hatte, sah sie aus den Augenwinkeln einen Fuß gefährlich nahe an ihr Gesicht kommen. Sie krümmte sich, konnte sich nun doch zur Seite rollen, spürte, wie der Fuß sie an der Schulter traf. Einen Augenblick gab es nur den stechenden Schmerz. Der Atem stockte ihr, wieder presste sie die Augen
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