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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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würde, vielleicht zum Schluss kam, dass die Verletzung im Genick und die Blutergüsse sich nicht allein mit Steinschlägen erklären ließen, zumal der Stollen unversehrt geblieben war?
    Andrés zog den Leichnam von den Stollen weg. Er blickte sich um, sah weit und breit niemanden.
    Nein, er würde Tiago nicht in einen der Stollen stoßen, er würde später lediglich behaupten, dass er ihn dort gesehen hatte. Besser, er schleifte ihn in die Wüste, bedeckte ihn mit Sand und hoffte darauf, dass die Geier den Rest erledigen würden. Wenn er sich weit genug von der Mine entfernte, würde man den Leichnam nie entdecken – und musste allein seiner Erzählung glauben.
    Er zerrte und schleppte an Tiago. Trotz Hitze und Gewichts kam er gut voran. Die Angst gab ihm Kraft – das Entsetzen über die eigene Tat und die aufsteigende Trauer um den einzigen Freund, den er je gehabt hatte, hingegen lähmten ihn. Er durfte ihnen nicht nachgeben! Nicht jetzt! Nicht solange er sich noch in der Nähe der Mine befand!
    Als von den Baracken und den Stollen nichts mehr zu sehen war, hielt er erstmals inne. Geschafft … er hatte es geschafft … Er würde die Spuren seines Verbrechens tatsächlich tilgen können …
    Erst weinte er vor Erleichterung, dann vor Verzweiflung. Er weinte um sich, um seinen Vater, um seinen Freund, um Aurelia. Er hörte nicht auf zu weinen, während er den Leichnam mit Sand bedeckte, bis nichts mehr von ihm zu sehen war.

23. Kapitel
    V ictoria klopfte dem Kind auf den Rücken und verlangte, dass es mehrmals husten solle. Hinterher kontrollierte sie das Taschentuch, das sie ihm vor den Mund gehalten hatte, und seufzte erleichtert. Kein Blut. Folglich keine Tuberkulose, die hier eine ebenso gefürchtete Krankheit war wie in Santiago und immer wieder diagnostiziert wurde – genauso wie die Kleinen Pocken oder die Cholera.
    Victoria wandte sich an die Mutter des Kindes und versuchte, ihr zu erklären, dass die stete Staubwolke, die über der Mine und dem »Schiff« hing, den Husten auslöste und dass sie ihm regelmäßig Honig geben sollte.
    Die Frau starrte sie verständnislos an, und Victoria seufzte erneut.
    Unter den Minenarbeitern gab es etliche Waliser, die mit ihren Familien streng abgeschottet von den Chilenen lebten – ihre Baracken waren sogar von einer kleinen Mauer getrennt – und die kaum Spanisch konnten.
    »Honig«, wiederholte Victoria. »Die zähe braune Masse, die von Bienen hergestellt wird.«
    Die Frau blickte immer verwirrter.
    »Honig ist süß. Verstehst du mich?«
    Die Frau nickte, erklärte dann aber in gebrochenem Spanisch, dass sie hier unmöglich Honig bekommen könnte.
    Victoria unterdrückte ein neuerliches Seufzen. Der tägliche Bedarf an Lebensmitteln wurde in der Pulpería gedeckt – dem werkseigenen Gemischtwarenhandel mit sehr überschaubarer Auswahl und überteuerten Preisen. Anstelle von Papiergeld wurde hier mit Fichas bezahlt, eigenen Bons, in denen ein Teil des Lohns ausbezahlt wurde. Es sei so praktischer, hieß es – während Victoria insgeheim vermutete, dass auf diese Weise die überteuerten Preise vertuscht werden sollten. Warum sonst waren jene Arbeiter, die bei den wenigen freien Händlern in der Wüste kauften, schlimmen Anfeindungen ausgesetzt?
    Dieses Bestreben, die Arbeiter abhängig zu machen, war nur eine der vielen Ungerechtigkeiten, die man hier ertragen musste.
    »Ich werde mit Doktor Cortes sprechen«, schlug Victoria vor, »vielleicht kann er etwas Honig beschaffen.«
    Die Frau nickte – aber Victoria war sich nicht sicher, ob sie sie verstanden hatte.
    Ich sollte ein paar Brocken Walisisch lernen, entschied sie.
    In den letzten Wochen hatte sie viele neue Sprachen gehört und sich darum bemüht, sich das eine oder andere Wort anzueignen: Nicht nur Waliser arbeiteten hier, auch Kroaten, Bolivianer und Peruaner, wobei man die Europäer noch halbwegs anständig behandelte, die Südamerikaner aus den Nachbarländern aber wie Sklaven.
    Victoria erhob sich von der Pritsche, auf der sie den Jungen untersucht hatte. Sie war – anstelle einer ordentlichen Matratze – nur von einer dünnen, rauhen Decke bedeckt. Insgesamt acht solcher Pritschen standen in dem winzigen Raum, so dass man sich dazwischen kaum bewegen konnte. Sie musste über drei steigen, bis sie die Tür erreicht hatte und ins Freie trat.
    »Adiós«, verabschiedete sie sich und war trotz der sengenden Sonne, die sie draußen erwartete, erleichtert, diesem Elend zu

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