Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
Vom Netzwerk:
entkommen.
    Sie blickte sich um und hielt nach jemandem Ausschau, der ihre Hilfe brauchen könnte. In den ersten Wochen hatten viele sie noch befremdet gemustert, wenn sie an Salvadors Seite in den Baracken erschien, doch mittlerweile hatte man sich an ihren Anblick gewöhnt, und sie war nun oft ohne ihn unterwegs, behandelte viele Krankheiten selbständig und holte ihn nur in schweren Fällen zu Hilfe. Eigentlich hatte er eine Krankenschwester gesucht, damit diese vor allem die Frauen behandelte, die sich scheuten, einem Mann ihre Leiden anzuvertrauen, doch längst wandten sich auch Männer an sie, wenn sie unter einem fauligen Zahn litten oder einem juckenden Ausschlag.
    Diesen konnte sie helfen, während sie machtlos zusehen musste, wie andere an der hier so häufigen Arsenvergiftung eines langsamen Todes starben oder bei grässlichen Unfällen ums Leben kamen – wenn sie zum Beispiel in eine der riesigen Mahlmaschinen fielen oder in die Bottiche mit dampfender Flüssigkeit, wo der Salpeter aus dem Gestein gelaugt wurde.
    »Wie ist es möglich«, hatte sie Salvador einmal empört gefragt, »dass es so viele Arbeiter in den Norden zieht? Sie befinden sich hier in ständiger Lebensgefahr, und ihr Lohn ist viel zu niedrig!«
    »Zumindest wird der Lohn regelmäßig ausbezahlt«, gab Salvador zu bedenken, »sie leben zwar einfach, aber verhungern muss niemand – ganz anders als in den Conventillos von Santiago, oder etwa nicht? Und auch wenn sie weniger verdienen als die städtischen Arbeiter, die Unterkünfte sind kostenlos.«
    »Kein Wunder beim Zustand dieser Hütten.«
    »Leben die Armen in Santiago wirklich komfortabler? Ich denke nicht. Und du musst bedenken – die meisten hier sind Junggesellen, die nur für ein paar Jahre hierbleiben. Sobald sie etwas Geld zusammengespart haben, kehren sie ins Zentraltal zurück und kaufen sich dort Land oder ein Geschäft.«
    Victoria konnte ihm nichts entgegenhalten. Natürlich wusste sie – Elend gab es überall und Ungerechtigkeit auch, aber hier, inmitten von Wüste und Einsamkeit, schien man ihm ungleich mehr ausgeliefert zu sein als in Santiagos Straßen, wo man sich in den reicheren Vierteln zwischenzeitlich der Illusion hingeben konnte, die Welt sei ein bunter, schöner, glänzender Ort.
    Nicht dass sie oft in diesen Vierteln gewesen war … und nicht dass sie sich nach Santiago zurücksehnte.
    Eigentlich war sie froh über die viele Arbeit, die sie hier hatte, und fühlte sich am richtigen Ort, wenn sie die von Salz und Sonne aufgerissenen Hände verband oder Tropfen gegen eine Bindehautentzündung verabreichte. Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht lautstark fluchte, wenn wieder einmal der Vorrat an Chinin zur Neige ging, weil im Lager das Dreitagefieber ausgebrochen war oder sich die Arbeiter in ihrer Not an indianische Curanderos wandten, vermeintliche Wunderheiler, die oft nichts anderes waren als Quacksalber. Sie kannten zwar das eine oder andere Mittel, das tatsächlich Linderung versprach, setzten dieses aber oft in zu hohen Dosen ein, so dass Victoria und Salvador später Vergiftungserscheinungen behandeln mussten, und außerdem galt bei ihnen das Kauen von Koka als Allheilmittel. Tatsächlich ließ sich damit Schmerz unterdrücken, aber eben auch, wie Victoria herausgefunden hatte, der wache Verstand. Und dadurch kam es zu noch mehr tödlichen Unfällen.
    Die Arbeiter ruinierten ihre Gesundheit nicht nur mit Koka – erst gestern hatte Salvador eine Stunde auf die Köchin der Siedlung eingeredet, um sie davon abzubringen, zu Pulver gemahlenen Feuerstein in das Essen zu mischen.
    »Aber das dämpft ihr Verlangen. Und hier leben zu wenig Puppen für zu viel Männer!«, hatte die Frau wieder und wieder eingewandt.
    »Der Feuerstein dämpft nicht nur das Verlangen, er macht sie auch krank und tötet sie auf lange Zeit.«
    Die Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, als gebe sie viel auf diese Worte, schlichtweg, weil das Leben eines Arbeiters hier keinen Wert hatte. Victoria war gestern noch empört darüber gewesen, als sie nun, nachdem sie ihren kleinen Patienten verlassen hatte, an einer Gruppe Männer vorbeikam, die herumlungerten, dachte sie hingegen unwillkürlich, dass der Gebrauch des Feuersteins auch sein Gutes hatte. Am Tag nach ihrer Ankunft hatte Salvador Cortes den Männern unmissverständlich klargemacht, dass sie für ihn arbeiten und nicht zu den Huren gehören würde, und da man ihn brauchte, respektierte man ihn, und da man ihn

Weitere Kostenlose Bücher