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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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seinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen, aber da war nichts. Er beugte sich über ihn, hoffte, ihn atmen zu hören, vernahm jedoch nichts anderes als die Stille der Wüste. Jetzt sah er auch das Blut im Nacken, nicht sonderlich viel, nicht sprudelnd, sondern zähflüssig, aber ausreichender Beweis, dass er auf einen spitzen Stein gefallen war.
    Andrés ließ den reglosen Körper los, wich zurück und stolperte auch. »O mein Gott!«, schrie er, als er auf dem weichen Wüstensand landete. »O mein Gott!«
    Sand drang in seine Kehle, bis er hustete.
    Er hatte seinen Freund getötet.
    Ja, jetzt, da er sich nicht mehr rührte, war Tiago wieder sein Freund. Vergessen waren der Hader, die Eifersucht, der unterdrückte Hass. Übermächtig wurden einzig die Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit, die für ihn so viel düsterer und langweiliger verlaufen wäre, wenn es nicht Tiago gegeben hätte, der ihn stets aufs Neue aus dem Haus gelockt, mit dem er gemeinsam Santiago erforscht hatte.
    »O mein Gott!«
    Er rappelte sich wieder auf. Seine erste Regung war, zu laufen, einfach zu laufen, so schnell wie möglich, so weit wie möglich, in die Wüste hinein und von Tiago fort.
    Der Rest an Vernunft, der dem Grauen standhielt, brachte ihn davon ab. In der Wüste würde er verdursten und von der Sonne verbrannt werden. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen, um seine Haut zu retten. Die Erinnerungen an die Vergangenheit verblassten – jetzt galt es nüchtern zu überlegen, was er tun sollte, damit er noch eine Zukunft hatte.
    Fest stand, dass ihn niemand hier gesehen hatte. Nur der Mann, der ihn hierherbegleitet hatte, wusste von seiner Anwesenheit – aber der hatte wiederum keine Ahnung, was er hier wollte. Er könnte Tiago einfach hier liegen lassen, er könnte zur Mine zurückkehren und von dort eilig aufbrechen. Er könnte nach Santiago zurückreisen, um William und Alicia …
    Verdammt, was sollte er ihnen erzählen? Und jener amerikanische Geschäftsmann, mit dem Tiago hier war – was, wenn er nach Tiago suchen ließ, wenn man ihn mit dieser Verletzung fand, wenn man Fragen stellte, wer sie ihm wohl beigebracht hatte?
    Nein, er konnte nicht einfach davonlaufen. Er musste mit dem Amerikaner sprechen – und eine Erklärung für Tiagos Tod finden.
    Kraftlos ließ er sich auf den Boden fallen, sah vor lauter Schweiß nichts, spürte nur plötzlich ein Vibrieren des Bodens, ein dumpfes Grollen. Es ging ihm durch Mark und Bein und erschreckte ihn zutiefst. Die Erde bebte – und obwohl er durch und durch Naturwissenschafter war, hielt er das in diesem Moment für seine gerechte Strafe. Er hatte seinen Freund getötet – nun würde ihn die Wüste verschlingen …
    Die Panik war groß, aber nicht so groß, um sämtliche nüchternen Gedanken zu verzehren. Das Beben wurde stärker, aber mit ihm wuchs die Erkenntnis, dass solche Erschütterungen des Bodens nicht unüblich waren – weder in Santiago und Valparaíso noch hier in der Wüste.
    Nein, dieses Erdbeben war keine Strafe für seinen Mord, es kam vielmehr wie gerufen, es würde ihn retten und jeden Verdacht von ihm lenken.
    Er rieb sich den Schweiß aus den Augen und sah sich suchend um. Hier gab es jede Menge stillgelegter Stollen, wer sich darin während eines Erdbebens aufhielt, konnte leicht verschüttet werden, und genau das würde er allen erzählen. Er hätte Tiago zuletzt hier gesehen, noch nach ihm gerufen, aber ihn nicht rechtzeitig erreicht, ehe der Freund in einen der Stollen gestiegen war, Gott allein wusste, warum. Er selbst wurde von der Wucht des Erdbebens auf den Boden gestreckt und musste hilflos zusehen, wie der Stollen über Tiago zusammenbrach. Ja, das würde er sagen, dem amerikanischen Geschäftsmann, William und Alicia, seinem Vater … und Aurelia.
    Trotz der Hitze überlief ihn ein Schaudern.
    Aurelia …
    Er verdrängte den Gedanken an sie, konzentrierte sich einzig und allein darauf, Tiago zu einem Stollen zu schleppen, blieb dann aber, als er einen erreicht hatte, stehen. Trotz des Erdbebens – die Stollen waren allesamt unversehrt geblieben, er hatte kein Dynamit, sie zu sprengen, und wenn er es gehabt hätte, hätte er nicht gewusst, wie er es anstellen sollte, um es als Folge des Bebens aussehen zu lassen. Er konnte nichts weiter tun, als Tiago in einen der Stollen zu stoßen – aber was, wenn man nach ihm suchte, den Leichnam zu früh fand und er noch kaum verwest war? Was, wenn ihn ein anderer Arzt untersuchen

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