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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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respektierte, starrte man ihr nicht aufdringlich nach – zumindest nicht, wenn er in der Nähe war. Etwas anders verhielt es sich, wenn Victoria allein unterwegs war.
    Sie unterdrückte das Verlangen, zu rennen, ging stattdessen mit geradem Rücken und hoheitsvollem Gesicht weiter – und merkte dann zu ihrer Erleichterung, dass die Männer sie gar nicht weiter beachteten. Nachdem sie schon in der Nacht aufgestanden waren, hielten sie nun die sogenannte Salpetersiesta zur Mittagszeit. Das Essen hatten die Männer heute selbst zubereitet – in riesigen Emailletöpfen, die auf Kochstellen aus Ziegelstein erhitzt wurden. Feuer bedurfte es in der prallen Mittagssonne nicht. Die Mahlzeit fiel karg aus und bestand aus nichts weiter als einer zähen, dampfenden Pampe aus geröstetem Mehl, Milchpulver und heißem Wasser. Doch offenbar bevorzugten sie ein schlichtes Mahl im Freien statt einer üppigeren Mahlzeit in den Speisesälen, die mit Wellblech bedeckt und so heiß waren, dass man förmlich zu zerrinnen schien. Die Gesichter der Männer glichen ledernen Schilden, ihre Hände waren von dicken Schwielen übersät, und ihre Füße waren völlig verdreckt, weil sie sich, wenn überhaupt, auf die Cowboywäsche beschränkten, die nur die Reinigung des Oberkörpers vorsah.
    Einige dösten nach dem Essen, ein anderer spielte mit einem Ball, der aus vielen Strumpfhosen zusammengenäht war. Victoria wollte schon an ihnen vorbeigehen, als sie sah, dass ein Dritter eine Zeitung in der Hand hielt. Offenbar konnte er sie nicht lesen, denn er hielt sie in sämtliche Richtungen, um aus dem Gewirr an Buchstaben schlau zu werden.
    So groß konnte ihre Scheu vor einem Rudel Männer gar nicht sein, dass Victoria sich nicht sofort bemüßigt fühlte, zu helfen.
    »Soll ich vorlesen?«, fragte sie ungebeten und trat auf den Mann zu. Verwirrte, glasige Blicke trafen sie, doch dann wurde ihr die Zeitung überreicht.
    Sie erkannte auf den ersten Blick, dass es eine der sozialistischen Zeitungen war, die in den Salitreras im Umlauf waren und die – anders als die anarchistischen Blätter – nicht sofort verboten worden waren.
    »Im Gran Norte hat sich in den letzten Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft«, las sie laut, »die Minenbesitzer und Händler werden immer reicher, während die armen Arbeiter für einen lächerlichen Lohn in der Caliche graben.«
    In den Gesichtern der Männer zeichnete sich keinerlei Gefühlsregung ab, doch Victoria war neugierig auf den ganzen Artikel geworden und las weiter.
    »Noch schlechter als die Arbeitsbedingungen in den Minen sind die in der Kohleindustrie. Die Arbeiter schuften in finsteren Tunneln an der Küste, die meistens erst im Ozean enden. Deswegen haben sie nicht nur unter den ständigen Explosionen zu leiden, sondern stehen immer im Wasser und sind der Gefahr von Überflutung ausgesetzt.«
    Nun reagierten die Männer doch – wenngleich auf unerwartete Weise: Sie lachten, und Victoria brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sie sich nicht über sie lustig machten, sondern sich schlichtweg nicht vorstellen konnten, wie jemand an zu viel Wasser leiden konnte, da hier doch stets ein Mangel daran bestand.
    Victoria straffte die Schultern. »Spottet nicht!«, befahl sie energisch. »Ob Minen- oder Kohlearbeiter – ihr müsst zusammenhalten, nur dann könnt ihr eure Ziele durchsetzen.«
    Ein Räuspern ertönte hinter ihr, und als Victoria herumfuhr, sah sie, dass sich der Aufseher genähert hatte, verdreckt und ledrig wie der Rest, aber an dem Affen zu erkennen, den er auf seiner Schulter trug, und daran, dass er nur noch einen Arm hatte. Den anderen hatte er bei einem Unfall verloren, und solcherart versehrt, hatte man keine andere Verwendung, als ihn zur Überwachung der übrigen Männer einzusetzen. Dies tat er, wie Victoria wusste, überaus streng und gnadenlos, um sich und aller Welt zu beweisen, dass er durchaus noch zu etwas taugte. Den Affen wiederum bedurfte es, um nach einer ersten Sprengung weiteres Dynamit in den tiefen Schächten anzubringen, solange diese noch zu schmal und instabil waren, um einen Mann hinunterzulassen.
    »Was ist hier los?«, fragte er.
    Victoria umkrampfte die Zeitung. »Menschen werden hier unbarmherzig ausgebeutet – das ist hier los«, erwiderte sie kampflustig.
    Träge trat der Aufseher näher und deutete auf die Zeitung. »Woher hast du das? Das ist hier verboten.«
    »Frei zu denken sollte nirgendwo verboten sein. Und Zeitungen auch nicht.

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