Im Schatten des Feuerbaums: Roman
zu bekräftigen, ihm zu sagen, wie glücklich sie in den letzten Jahren an seiner Seite gewesen war. Doch als er für immer die Augen schloss, war sie sich sicher, dass sie ab nun nie wieder so glücklich sein würde, sich so geborgen, so zu Hause fühlen würde.
Sie hatte auch weiterhin die Fassung gewahrt, aber es wurde immer schwerer, ohne Salvador an einem Ort zu leben, wo alles an ihn erinnerte.
Sie hatte sich kurz überlegt, wieder in Santiago bei Valentina und Pepe zu leben, aber dann war ihr eingefallen, wie sich Rita und Balthasar einst nach dem Tod ihrer Eltern gewünscht hatten, sie möge zu ihnen nach Patagonien kommen. Sie konnte sich kaum an jenes Land erinnern, das sie nur einmal als Kind besucht hatte, war sich jedoch mit einem Mal sicher gewesen, dass es ihr am besten täte, eine ganz fremde Welt kennenzulernen, anstatt sich in einer bereits vertrauten wieder neu zurechtfinden zu müssen.
Seit sie diesen Entschluss getroffen hatte, war die Trauer nicht erträglicher geworden, aber sie konnte wieder atmen, ohne das Gefühl zu haben, zu ersticken.
Sie umklammerte immer noch die Reling und ließ sich den Wind ins Gesicht blasen, als vor ihr etwas anderes sichtbar wurde als nur einsame Natur und dunkles Wasser.
»Punta Arenas!«, rief sie und unterbrach Kate und Christophers ausführliche Schilderung ihres Aufenthalts im australischen Busch, wo Christopher fast von einer giftigen Spinne gebissen worden wäre. »Punta Arenas liegt vor uns!«
Im Hafen herrschte reges Treiben, aber Victoria sah weit und breit kein bekanntes Gesicht. Das Gewühl an Menschen und Schafen und der Lärm, der nach der ungleich ruhigeren Zeit auf dem Schiff in den Ohren weh tat, stimmten Victoria etwas verzagt – umso mehr, nachdem sie sich von Kate und Christopher Wellington verabschiedet hatten –, und sie bezweifelte ernsthaft, ob sie Rita und Balthasar überhaupt wiedererkennen würde. Clara klammerte sich ängstlich an sie fest, während Dora sich ihre Unsicherheit wie immer nicht anmerken lassen wollte und stattdessen die Stadt in Augenschein nahm.
Wie so viele Orte, an denen Victoria gelebt hatte, war auch Punta Arenas geprägt von Gegensätzen: Nur wenige Straßenzüge waren sie voneinander entfernt – die windschiefen Hütten und Baracken der Armen und die prächtigen Steinhäuser der Reichen. Die Hafenarbeiter waren mit Lumpen bekleidet, die Vertreter der großen Banken, Handelsunternehmen oder von La Anónima, der größten Kompanie in Patagonien, die in Punta Arenas einen eigenen Schiffsanlegeplatz hatte, mit Zylinder und Cut. Ihre Arroganz konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele der vornehmen Häuser leer standen und die Blütezeit dieser Stadt längst vorbei war: Der Bau des Panamakanals vor sechs Jahren hatte ihr Ende eingeleitet.
Gestank lag in der Luft, und er kam nicht nur vom schlickigen Meerwasser, sondern von den Abfällen auf der Straße. Die großen Errungenschaften des modernen Lebens – Elektrizität und Kanalisation – hatten ihren Weg natürlich schon vor langer Zeit auch in die südlichste Spitze von Amerika angetreten, doch beides, so hatte Rita sie in einem Brief vorgewarnt, würde nicht immer funktionieren.
Clara umfasste ihre Hand noch fester, als sie einer Gruppe Kohlearbeiter auswichen, die mit schwarzen und zugleich leeren Gesichtern an ihnen vorbeistapften. In Loreto gab es eine große Mine, und wahrscheinlich, dachte Victoria, wurden die Leute dort genauso ausgebeutet wie im Gran Norte.
Ein plötzlicher Aufschrei neben ihr ließ sie zusammenzucken. Dora war ebenfalls den Kohlearbeitern ausgewichen, dabei aber in ein Rudel Schafe geraten, die eben Richtung Pier getrieben wurden. Von allen Seiten wurde sie von den flauschigen Leibern eingekreist, und sie, die ansonsten doch praktischer veranlagt war als Clara, machte ein verzweifeltes Gesicht und schrie panisch.
Es war ein zu komischer Anblick! Clara vergaß ihre Furcht und lachte aus voller Kehle, das erste Mal seit vielen Wochen, und auch Victoria konnte nicht anders und musste schmunzeln.
Sie wollte sich schon durch die Schafe kämpfen, um der Stieftochter zu Hilfe zu kommen, als wie aus dem Nichts zwei junge Burschen auftauchten, die Tiere unsanft beiseiteschubsten und prompt Dora erreichten, um sie, der eine rechts, der andere links, sicher zu Victoria zu geleiten. Kurz stand nichts als Erleichterung in Doras Gesicht, doch rasch wurde es wieder hochmütig, als sie sich den grinsenden Burschen
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