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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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in einem Traum gefangen, als sie auf sie zutrat. Nie und nimmer hätte sie erwartet, die einstige Freundin hier vorzufinden. Rita hatte sie in keinem ihrer Briefe erwähnt.
    »Aurelia … was machst du hier?«
    »Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte die andere leise. »Ich lebe seit vielen Jahren hier. Tiago …«, ihr Lächeln schwand, »… Tiago ist gestorben.«
    An Aurelias Seite stand ein Junge und blickte Victoria scheu an. Er war so schlaksig wie die anderen drei, doch kleiner – und deutlich schüchterner. Seine dunklen Augen und sein Haar erinnerten an Aurelia – der fein geschwungene Mund dagegen ließ Victoria an Alicia Alvarados denken, obwohl sie die nur zweimal gesehen hatte.
    »Das ist Tino«, sagte Aurelia.
    Wie groß das Kind geworden ist, das sie einst entbunden hatte! Neun Jahre musste das her sein, und damals hatte sie Aurelia zum letzten Mal gesehen! Und Tiago war … tot?
    Daher rührte also die Trauer in Aurelias Gesicht! Als Victoria sie anblickte, vermeinte sie kurz, in einen Spiegel zu sehen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie leise, »ich meine wegen … Tiago.« Sie zögerte kurz, ehe sie hinzufügte: »Auch mein Mann ist gestorben.«
    Noch standen sie steif voreinander, dann überbrückten sie die Distanz gleichzeitig und fielen sich in die Arme. Was immer sie getrennt hatte, zählte nicht mehr. Zum ersten Mal seit Salvadors Tod weinte Victoria.

31. Kapitel
    S o selbstverständlich es gewesen war, Aurelia bei der Begrüßung zu umarmen, und so vertraut ihr der Anblick der Freundin trotz der vielen Jahre der Trennung war – in den ersten Tagen, die Victoria mit den Mädchen auf der Estancia verbrachte, gab es keine Möglichkeit, sich in Ruhe mit ihr auszusprechen. Stets herrschte Unruhe, wurde geredet und gestritten, gelacht oder geschimpft.
    Arturo und Emilio versuchten – anfangs noch aus Spaß, später mit zunehmender Verbissenheit –, die Zwillingsmädchen zu beeindrucken, indem sie ihnen vorführten, was sie konnten. Das waren ganz vernünftige Dinge, wie ein Schaf zu scheren, und weniger vernünftige, wie mit dem Pferd über das Gatter zu springen – ein nicht ungefährliches Unterfangen, bei dem sich Tier wie Reiter bei einem Sturz alle Knochen hätten brechen können.
    Cornelio konnte da nicht mithalten, so wie er oft im Schatten der beiden älteren Brüder stand, und er bekämpfte die Unzufriedenheit darüber, indem er seinerseits seine Überlegenheit gegenüber Tino ausspielte. Er spornte ihn zu den unsinnigsten Wettkämpfen an, bei denen Tino fast immer unterlag und nicht selten vor Ärger und Scham in Tränen ausbrach. Wenn Aurelia sich allerdings einschaltete und Cornelio wütende Vorwürfe machte, wischte sich Tino die Tränen ab und bekundete ihr gegenüber trotzig, dass er auf sich selbst aufpassen könne. Nur mit Mühe konnte Aurelia dann den sichtlichen Schmerz unterdrücken, den sie mit allen Müttern von Söhnen teilte: den Schmerz, dass das geliebte Kind, das eben noch auf dem Schoß gesessen hatte und liebevoll geherzt worden war, so schnell erwachsen wurde, sich nun störrisch ihren Umarmungen entzog und einzig auf die Anerkennung von älteren Jungs aus war, nicht auf die der Mutter. Ohne Zweifel war das Band zwischen Aurelia und Tino noch eng, zumal er ohne Vater aufwuchs, doch gerade weil der Knabe sich der Reißfestigkeit dieses Bandes und der vorbehaltlosen Liebe seiner Mutter sicher sein konnte, versuchte er sich umso trotziger den Anschein zu geben, dass er ihrer Fürsorge längst nicht mehr bedurfte.
    Victoria wurde rasch müde, den immer gleichen Auseinandersetzungen zu lauschen, bei denen nach ihrem Geschmack zu wenig Verstand und zu viel männlicher Stolz im Spiel waren. Stattdessen suchte sie, nachdem sie sich von der langen Reise genügend ausgeruht hatte, nach einer sinnvollen Tätigkeit.
    »Kann ich bei irgendetwas helfen? Gibt es für mich etwas zu tun?«, fragte sie.
    »Ich fürchte, eine Krankenschwester brauchen wir nicht«, meinte Rita, »hier sind alle gesund. Nach meinem Geschmack manchmal zu … gesund.«
    Victoria erwiderte ihr Grinsen, wurde aber sogleich wieder ernst. »Ich bin es nicht gewohnt, meine Hände in den Schoß zu legen. Und ich lerne schnell.«
    Rita überlegte »Nun, vielleicht kannst du Balthasar im Laden helfen …«
    Victoria kam der Verdacht, dass ihre Hilfe nicht wirklich nötig war, aber sie genoss es, am nächsten Tag mit Balthasar durch die karge Steppe zu reiten, als der Himmel noch rostrot war, die

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