Im Schatten des Feuerbaums: Roman
zum Essen. Erst nach ein paar Stunden bemerkte sie, dass die Männer gar nicht ihr Mittagessen verzehrten, sondern lediglich einen Kaugummi kauten.
Tags darauf fuhr sie über die Brooklyn Bridge – die längste Hängebrücke der Welt mit einer mächtigen Stahlseilverankerung. Kate hatte erzählt, dass sie bei der feierlichen Eröffnung 1883 als achtes Weltwunder gefeiert wurde – eine Bezeichnung, die ihr durchaus würdig erschien, obwohl sie Brooklyn hasste. Christopher Wellington dagegen, der um Victorias Gesinnung wusste, fügte hinzu, dass der Bau dieses achten Weltwunders viele Menschenleben gekostet hatte, an die keiner mehr denke – wohl eher, um seine Frau zu provozieren, als aus gleicher Überzeugung.
In Brooklyn war Victoria zu Fuß unterwegs, geriet von Viertel zu Viertel, kam an den koscheren Lebensmittelgeschäften der Juden in Williamsburg vorbei, kleinen Nudelfabriken und Trattorien im italienischen Bushwick und den Lokalen in Bedford, wo Brathähnchen und Süßkartoffeln wie in den Südstaaten angepriesen wurden. Das Essen ließ sie kalt – viel faszinierender fand sie, dass so viele Nationen an einem Platz lebten. In der Atacamawüste, wo viele Ausländer gearbeitet hatten, hatte sie manche Fremdsprache gelernt, und es machte ihr Spaß, diese nun auszuprobieren. Kein Wort verstand sie – nach Manhattan zurückgekehrt – auf der Pell Street in Chinatown.
Es war später Nachmittag geworden, als sie an den Lebensmittelständen des Washington Market vorbeikam – ein so lauter und belebter Ort, dass es sie rasch zur Flucht drängte. Sie wich auf eine der Seitenstraßen aus, auf deren Boden Müll verrottete. Der Dreck störte sie wenig – wie immer befriedigte sie es, wenn sie hinter dem vermeintlich reichen, glanzvollen New York, das Kate beschwor, das wahre Gesicht der Stadt entdeckte, in der es neben allem Geld so viel Elend gab. Sie ging neugierig weiter, kam zu einer der größten Mietskasernen, wo Menschen in winzigen Löchern und unter schrecklichen hygienischen Bedingungen lebten.
Irgendetwas Außergewöhnliches musste dort vor sich gehen, denn vor einer der Türen drängten sich mehrere Dutzend Menschen. Sie trat näher und hörte eine laute Stimme, die ins Freie drang und der zu lauschen all diese Menschen offenbar gekommen waren. Victoria hörte interessiert zu – und erstarrte schon im nächsten Moment: Wer immer diese Rede hielt – er sprach zwar englisch, aber er hatte einen unüberhörbaren spanischen Akzent.
Noch ehe sie wusste, wer es war, berührte sie etwas tief in ihrer Seele.
Sie zwängte sich durch die Menschenmasse hindurch, erreichte das Gebäude, trat auf die Zehenspitzen. Wieder erstarrte sie, als sie erkannte, wer die Rede hielt. Sie hätte nie geglaubt, diesen Mann wiederzusehen – und erst recht nicht hier.
Tiago war gezwungen, zwei Wochen auf die nächste freie Schiffspassage Richtung Chile zu warten. Anfangs war er ärgerlich und ungeduldig, später fügte er sich dem Unvermeidlichen. Zum ersten Mal seit Jahren konnte er sich nicht in Arbeit flüchten, sondern hatte Zeit, nachzudenken. Dies fiel ihm schwer. Obwohl er genügend Geld hatte, um sich in einem anständigen Hotel einzumieten, hielt er es drinnen kaum aus. Saß er still, so glaubte er, würden auch die Erinnerungen erlahmen und die Stille seinen Kopf zum Platzen bringen. Im Lärm und Gewühl der New Yorker Straßen hoffte er auf neue blitzartige Bilder, die jäh vor seinen Augen aufsteigen würden.
Besagtes Gewühl jedoch fiel so heftig aus, dass er sich weniger auf mögliche Erinnerungen konzentrieren konnte, als darauf, heil über die Straßen zu kommen, ohne von einem Fuhrwerk, Auto oder der Straßenbahn, die von unterirdisch verlaufenen Kabeln gezogen wurde, überfahren zu werden. Wenn er wiederum vermeinte, irgendwo sicher stehen zu können und nicht zu riskieren, dass sich Ellbogen in seinen Körper rammten, wurde seine Aufmerksamkeit von den vielen faszinierenden Gebäuden und Konstruktionen gebannt.
Sich mit Architektur zu beschäftigen hatte ihm all die Jahre geholfen, zu überleben und nicht den Verstand zu verlieren. Hier nun merkte er, wie viel er tatsächlich mittlerweile davon verstand, und er hätte gerne mehr darüber erfahren. Allerdings war er nur von geschäftigen Fremden umgeben, die längst blind waren für die Attraktionen ihrer Stadt.
In den ersten Tagen hatte es geregnet – dann wurde es so schwül und heiß, dass selbst die Damen manchmal ihre Jacken
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