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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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müssen. In der Lower Eastside lebt man so eng wie sonst nirgends. Und wenn ihr denkt, dass es bereits hier schrecklich ist, dann geht in die Mulberry Street, wo sich einhundertfünfzig Menschen einen Wohnblock teilen, die Zimmer so klein sind, dass man sich kaum umdrehen kann, und gerade mal zwölf Toiletten für alle zur Verfügung stehen, die ständig verstopft sind.«
    Wieder grölte das Publikum auf, wiederholte einige Worte, fügte Beleidigungen auf Fabrikanten und Hauseigentümer hinzu, ballte wie Jiacinto die Hände zu Fäusten. Eben noch hatte sich Victoria von Wut und Begeisterung mitreißen lassen, nun fiel ihr vor allem auf, wie heiß und stickig die Luft war. Die Anspannung wich der Erschöpfung, und anstatt auf Jiacintos nächstes Wort zu warten, wollte sie nur eins: frische Luft atmen. Allerdings hatte sie sich zu weit nach vorne gedrängt, und die Reihen hinter ihr hatten sich längst wieder geschlossen. Sie würde warten müssen, bis die Rede zu Ende war, um ihren Weg nach draußen zu finden.
    »Das ist das wahre New York! Nicht das gelobte Land, wo der Tellerwäscher Millionär wird. Sondern ein Ort, wo nur wenige hundert Meter vom Elend der Arbeitersiedlungen die Reichen Schmuck bei Tiffany kaufen. Wo man die Stütze der Gesellschaft, die Blue-Collar-Workers, in dreckige Mietskasernen verbannt, während auf den großen, prächtigen Promenaden die Schoßhündchen ausgeführt werden. Kann es so weitergehen? Darf es so weitergehen?«
    »Nein«, heulte die Menge.
    »Ich fordere Gerechtigkeit, und ich fordere Wohlstand für alle. Nehmt den Reichen, weil diese zu viel haben, und gebt es den Armen, die stets von allem zu wenig haben.«
    Plötzlich wurde Jiacintos Stimme ganz leise, und er zwang das Publikum still zu sein, um seine Rede zum Abschluss zu bringen: »Eine neue Zeit ist gekommen, die Zeit des Kommunismus, die Zeit des Proletariats. Erst ist die Zeit in Russland gekommen, dann wird sie in Europa kommen und schließlich auch hier bei uns in Amerika.«
    Er öffnete seine Fäuste, hob stattdessen beide Hände mit gespreizten Fingern nach oben.
    »Erst Russland, dann Europa, dann Amerika!«, echote das Publikum, ehe die Worte in stürmischem Applaus untergingen.
    In Victorias Ohren rauschte es, und am liebsten hätte sie sie sich zugehalten. Alles, was Jiacinto gesagt hatte, hätte sie durchaus bejaht, aber sie hätte lieber an einem ruhigen Ort im überschaubaren Kreis hitzige Diskussionen geführt, anstatt hier eingepfercht zwischen schwitzenden Leibern zu stehen. Die blitzenden Augen und die weit geöffneten Münder der Massen hatten etwas Beängstigendes, und als sie Jiacinto musterte, so raste nicht die fieberhafte Erregung von einst durch ihre Adern, sondern nur Überdruss.
    Kurz lichtete sich die Menge, als ein anderer Redner vorgelassen wurde, um die Bühne zu betreten. Jiacinto wurde etwas zu trinken gereicht – sie erkannte nicht, ob Schnaps, Bier oder einfach nur Wasser. Bei diesem Anblick wurde ihr die Kehle trocken, und sie begann, sich durch die Menge Richtung Ausgang zu drängen. Sie kam nur langsam voran, bekam manchen Tritt oder Schlag dabei ab, fühlte aber dennoch, wie die Luft etwas frischer wurde. Dort vorne konnte sie schon die Straße sehen, nur noch wenige Schritte, dann hatte sie sie erreicht. Doch ehe sie sich endgültig an den Männern vorbeigedrängt hatte, hielt eine Stimme sie auf.
    »Victoria, Victoria, warte!«
    Der Überdruss, den er eben noch in ihr ausgelöst hatte, verflüchtigte sich. Es war etwas anderes, ihn Reden schwingen zu hören oder ihren Namen aus seinem Mund zu vernehmen. Leben kehrte in ihre erschöpften Glieder zurück, als sie sich langsam umdrehte, sich dieser Stimme nicht länger immun stellen konnte – und ebenso wenig den vielen Erinnerungen, die ihr Klang beschwor, Erinnerungen an die verwahrloste Wohnung der Carrizos, die für sie ein Paradies gewesen war, an ihre verstohlenen, heimlichen Küsse und Umarmungen, in denen stets etwas Peinvolles mitgeschwungen hatte und nach denen sie sich trotzdem verzehrt hatte.
    Ich habe ihn so geliebt, dachte sie plötzlich, ich hätte alles für ihn getan, ich hätte mein Leben für ihn gegeben.
    Als er auf sie zutrat, wurde sie blind für die Spuren der Zeit, die an ihm genagt hatten. Sie sah plötzlich den jungen, wilden Mann vor sich, der sie manchmal enttäuscht und verärgert, aber der sie niemals kaltgelassen hatte, und sie fühlte sich wieder wie das knapp siebzehnjährige Mädchen, das ihn so
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