Im Schatten des Feuerbaums: Roman
wieder wusste, wie er hieß, und seine Verletzungen verheilt waren, und er war überzeugt, schneller nach Südamerika zu gelangen, wenn er erst einmal den Atlantik überquert hatte.
Nach der plötzlichen Erkenntnis, woher er stammte, hatte er sich weitere Erinnerungen erhofft, doch alle bruchstückhaften Bilder, die aufstiegen, glichen Blitzen: Sie waren zu kurz und zu grell, um Einzelheiten seines früheren Lebens zu beleuchten. Mal glaubte er, eine Palme zu erkennen, mal eine Bergspitze, manchmal sogar Gesichter. Doch stets konnte er nur die Farbe der Haare erkennen, die sie umrahmten, nicht die konkreten Züge oder gar die Augen.
Er hoffte, auf vertrautem Boden bald mehr zu erfahren, doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt: Auf dem Schiff brach eine Seuche aus, und obwohl der Schiffsarzt sich nicht sicher war, ob es sich um Typhus, Dysenterie oder etwas Harmloseres handelte, wurde die gelbe Flagge gehisst. Eine Weile fuhren sie vor dem Hafen auf und ab, und erst als es nach einer Woche keine neuen Toten zu vermelden gab, wurde ihnen endlich erlaubt, Ellis Island zu betreten. Die Untersuchungen der Passagiere fielen noch strenger aus als bei anderen Schiffen.
Endlos lange kam Tiago die Kette vor, in der er sich anstellen musste. Grau, zerlumpt und mager waren die meisten, in deren Gesichter er blickte. Bei einigen war der Blick wie tot, bei anderen standen Hoffnung und Sehnsucht darin – beides atmete Verzweiflung und die Angst, so kurz vor dem großen Ziel abgewiesen zu werden.
Die Ärzte, die die Untersuchungen vornahmen, hatten sich längst an das Elend gewohnt. Mitleidlos untersuchten sie Hälse nach Kröpfen oder dem scharlachroten Rachen, zwangen manche Menschen dazu, zu urinieren, um den Harn auf Vergiftungen zu untersuchen, und kannten keinerlei Nachsicht mit verschämten Frauen, die sich vor ihren Kindern ausziehen mussten und deren Schamhaare durchkämmt wurden, da sich darunter ein Ausschlag befinden könnte.
Noch Nächte später hatte er Alpträume angesichts der vielen Tragödien, die er hautnah miterlebte – unter anderem die eines jungen, eigentlich kräftigen Mannes, der ein Bein verloren hatte, darum hinkte und prompt ein L, als Zeichen für »lame«, mit Kreide auf seine Kleidung geschrieben bekam. Jeder wusste, was das bedeutete: Man würde ihm nicht gestatten, Ellis Island zu verlassen, sondern ihn auf dem nächsten Schiff zurück nach Europa schicken – da nützte es auch nichts, als der Mann erst wütend, dann verzweifelt, schließlich unter Tränen bekundete, dass er das Bein im Krieg, folglich im Dienst am Vaterland, verloren hatte, dass ihn sein Fehlen aber nicht daran hindern würde, so hart zu arbeiten wie jeder andere auch.
Schließlich, da er sich nicht beruhigte, wurde er gewaltsam fortgeschafft.
Fast noch mehr traf Tiago das Schicksal einer spanischen Familie: Der Mann war stattlich und feist, die Mutter hingegen bleich, schmal und hustete Blut. Auch die Kinder unterschieden sich, kamen die Söhne doch nach dem gut genährten Vater, die Mädchen nach der hohlwangigen Mutter. Prompt wurden die weiblichen Familienmitglieder von den anderen getrennt und in eines der beiden Krankenhäuser von Ellis Island eingewiesen. Wenn sie sich rasch erholen würden, so hieß es, könnten sie bald zum Rest der Familie stoßen – falls nicht, wäre die Familie auf ewig getrennt. Die Frau und die Söhne schluchzten herzzerreißend, die Mädchen hatten keine Kraft dazu, und im Gesicht des Mannes stand nur nackte Gier – Gier nach gutem Verdienst und folglich nach Reichtum, die ihn hierhergelockt hatte und der er im Notfall auch Frau und Töchter opferte.
Wahrscheinlich, ging es Tiago durch den Kopf, war dieses Opfer sogar umsonst. Längst war Amerika kein gelobtes Land mehr, in dem der einfachste Lump zum Millionär werden konnte. Hier galt wie überall sonst auf der Welt, dass Arme immer ärmer und Reiche immer reicher wurden.
Vor Tiago kam ein Russe an der Reihe. Er versuchte, auf Englisch zu sprechen, aber er hatte einen so starken Akzent, dass man ihn kaum verstand. Obwohl kräftig und gesund, zweifelte man darum an den Fähigkeiten seines Verstands und stellte ihm eine Rechenaufgabe, auf dass er beweisen möge, dass ihm dieser nicht fehlte. Wenn er zwei Pferde, drei Kühe und vier Schafe hätte, wurde er gefragt – wie viele Tiere hätte er dann insgesamt?
Der Russe glotzte erst verständnislos, dann knurrte er – diesmal gut verständlich: »Das weiß ich
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