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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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Zeitungsverkäufer riss auch – nämlich an dem Journal, während Tiago es erbittert festhielt und es einfach nicht hergeben wollte. Seine Verzweiflung gab ihm Kraft. Bald hatte er es wieder an sich gebracht, presste es an die Brust wie einen kostbaren Schatz und stürmte davon.
    Ja, mein Vater ist Engländer … Meine Mutter hingegen ist Chilenin. Alicia … Sie heißt Alicia, und sie ist fromm …
    Er hörte den Zeitungsverkäufer laut schreien und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie ein Mann auf einem Fahrrad darauf aufmerksam wurde, nicht irgendein Mann, sondern ein Streifenpolizist, der mit diesem Transportmittel so viel schneller vorankam als mit einem Wagen.
    »Ein Dieb! Der Mann ist ein Dieb! Haltet ihn!«
    Tiago rannte und rannte. Alles war ihm egal – dass der Polizist ihn verfolgte, dass er gegen Menschen stieß, dass diese ihn beschimpften. Er rannte immer weiter davon – und zugleich mit jedem Schritt auf sein altes Leben zu.
    Er musste unbedingt herausbekommen, wo dieses Ehepaar Wellington lebte und was sie mit diesem Bild zu tun hatten! Er musste Aurelia wiederfinden!

34. Kapitel
    M ehrere Tische waren in der Mitte des Raums zusammengestellt, und auf diesen Tischen ging der Redner auf und ab. Seine Schritte fielen ebenso energisch aus wie seine Gesten. Mehrmals hob er seine Fäuste, und stets heulte das Publikum begeistert auf. So zart und klein sie gemessen an den Männern hier war, gelang es Victoria, sich unauffällig vorzudrängen, bis sie die Tische erreicht hatte.
    Bis dahin war ihr Blick auf den Redner meist verdeckt gewesen – sie konnte nur Details, nicht die Gesamtheit seiner Erscheinung wahrnehmen. Erst unmittelbar vor den Tischen war die Sicht frei, und sie konnte ihn ausgiebig mustern: Sein Bart war länger geworden, reichte bis zur Brust und war genauso verfilzt wie das Haupthaar, das an der Stirn deutlich schütterer geworden war. Seine Züge wirkten aufgeschwemmt, um die einstmals schmale Taille hatte sich ein Wanst gebildet, nur an den Unterarmen traten immer noch die Sehnen hervor. Schön anzuschauen war er nicht, aber das war er nie gewesen, und um der Schönheit willen hatte sie ihn auch nicht geliebt.
    »Was ist uns alles versprochen worden!«, rief Jiacinto Carrizo voller Inbrunst. »Damals, 1911, als beim großen Feuer in der Triangle-Hemdenfabrik so viele Arbeiterinnen sterben mussten, weil die Besitzer die Ausgänge einfach abgesperrt haben. Wie fadenscheinig nach ihrem Unglück die Ausreden ausfielen! Sie hätten schließlich verhindern müssen, dass sich die Näherinnen unerlaubt von ihrem Arbeitsplatz fortbewegten, wer hätte schon mit dem Feuer rechnen können. Nun, man hat sie zur Verantwortung gezogen, und man hat damals auch die Arbeitszeit auf vierundfünfzig Stunden in der Woche beschränkt – was eigentlich längst überfällig gewesen ist. Aber hat sich seitdem wirklich alles zum Guten gewandt? Gewiss nicht!«
    Obwohl es sein starker Akzent den Zuhörern schwermachte, jedes Wort zu verstehen, sprach er so mitreißend, dass er sein Publikum voll und ganz in Bann gezogen hatte. Niemand störte sich daran, dass er Ausländer war, ein jeder berauschte sich an der gerechten Empörung, die von Jiacinto auf seine Zuhörer überschwappte – auch auf Victoria, die sich kurz in eine Zeit zurückversetzt wähnte, da sie für Augenblicke wie diesen gelebt hatte, Augenblicke, da sie ihm hingerissen lauschte, begierig auf sein nächstes Wort wartete.
    »Nichts ist besser geworden!«, schrie er. »Man blicke nur auf die Arbeitsbedingungen in den Kautabakfabriken. Die Luft ist stickig, die Temperatur drückend, das Licht schlecht. Kaum Weiße arbeiten dort, nur Schwarze – und da will einer behaupten, man habe die Sklaverei abgeschafft. Ich sage: Das ist sie nicht! Sie hat nur ein anderes Gesicht bekommen … oder vielmehr eine schauerliche Fratze.«
    Die Menge grölte, während Jiacinto eine kurze Pause einlegte. Victoria blickte sich um, denn erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass er nicht allein hier war, sondern – wie immer – von seinen Geschwistern begleitet wurde, der katzenhaften Rebeca und dem stets etwas steifen, nörgelnden Juan.
    Doch sie sah nur in fremde Gesichter – fast ausschließlich von Männern und von Hitze, Alkohol und Wut gerötet.
    »Nicht nur die Arbeitsbedingungen in den Fabriken sind unerträglich und nicht zu akzeptieren«, fuhr Jiacinto fort. »Gleiches gilt auch für die Art, wie die meisten Arbeiter wohnen oder vielmehr: hausen

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