Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Essen und Selbstgespräche verzichtete und das bestätigte: »Das stimmt: Mutter gehörte zu jener Gruppe von Frauen, die einst vor den Wählerauswahlausschuss traten und das Recht für sich beanspruchten, zu wählen.« Er machte eine Pause und setzte dann mit einem kaum unterdrückten Grinsen hinzu: »Diese Forderung wurde einfach ignoriert. Und wenig später wurde ein offizielles Verbot erlassen, dass Frauen wählen gehen.«
Zum ersten Mal war sein Gesicht nicht schmerzverzerrt, sondern hoch erfreut – offenbar gefiel es ihm, dass der Staat seiner Mutter deutliche Grenzen aufgezeigt hatte, während er selbst nur ohnmächtig Selbstgespräche führen konnte.
»Das stimmt«, gab Valentina widerwillig zu, »wählen dürfen wir nicht. Emanzipiert sind die chilenischen Frauen trotzdem … manche zumindest. Und gut organisiert. Und wenn ich auch nicht wählen durfte, ich war damals im Kongress jeden Tag dabei und habe auf der Tribüne zugehört, als die Reform des Zivilcodes diskutiert wurde.«
Victoria stand der Respekt deutlich ins Gesicht geschrieben, während Aurelia keine Ahnung hatte, dass es einen Zivilcode gab, dieser reformiert worden war und dass man als Zuschauer den Kongress betreten durfte. Sie wusste nicht viel mehr von Politik, als dass Pedro Montt Präsident war, und sie wusste auch nicht, was sie von Victorias Plänen halten sollte. Diese würde also Krankenschwester werden. Und sie selbst … Malerin?
Allerdings, nicht nur Victoria und nun Valentina bestärkten sie darin, auf die Escuela zu gehen, auch Tiago hatte das gesagt – Tiago, der die Kunsthochschule anscheinend gut kannte und den sie, wenn überhaupt, nur dort wiedersehen würde.
Ein breites Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie an ihn dachte, und Victoria, die offenbar der Meinung war, dass sie an ihre Berufung als Malerin dachte und sich entschieden hatte, dieser ernsthaft zu folgen, erwiderte es.
4. Kapitel
V ictoria hatte klare Vorstellungen von Aurelias Zukunft – doch wann genau diese Zukunft beginnen sollte, schien ihr gleichgültig. Auch sie selbst war noch zum Warten gezwungen: Sie waren im April, Ende des Sommers, in Santiago eingetroffen, und ihre Ausbildung als Krankenschwester, die sie an einem der fünf großen städtischen Krankenhäuser machen würde, begann erst einen knappen Monat später. In dieser Zeit zog sie sich oft mit Valentina und deren Anwalt zurück, um Fragen zu ihrer Vormundschaft und ihrem Erbe zu klären, während Aurelia auf sich allein gestellt blieb und sich an den gleichmäßigen Tagesablauf gewöhnte.
Valentina, die sich schon vor Jahren aus der Buchhandlung zurückgezogen hatte und es Pepe überließ, das Geschäft zu führen – nur bei wirtschaftlich mageren Monaten half sie mit ihrer Leibrente aus –, liebte es, den Tag einer strengen Planung zu unterwerfen. Sie zwang den Mädchen nichts auf, verlangte aber von ihnen, dass sie diese Ordnung unter keinen Umständen störten. Erst am späten Vormittag verließ sie ihr Schlafzimmer – zuvor ließ sie sich von dem Hausmädchen Bona Kuchen und heiße Schokolade zum Frühstück servieren und außerdem mehrere Zeitungen: den Mercurio, eine große Lokalzeitung, und überdies Die deutschen Nachrichten für Südamerika, die eigens von Valparaíso an ihren Haushalt geschickt wurde.
Aurelia fragte sich, warum sie – als Chilenin – so interessiert an der deutschen Kultur war und woher sie Victorias Mutter Emilia überhaupt gekannt hatte, und erfuhr von Victoria, dass Valentinas Mann ein Abkömmling von deutschen Einwanderern war und sie sich seiner Kultur zugehörig fühlte. Getauft worden war er auf den Namen Franz Kupfer; später hatte er sich Francisco genannt. Im Bürgerkrieg von 1891 musste er sein Leben lassen, und Valentina hatte Pepe, der ihr einziges Kind geblieben war, danach allein aufgezogen. Bei der Gestaltung des Tagesablaufs spielte Francisco immer noch eine wichtige Rolle. Im Esszimmer hing ein großes Gemälde von ihm, darunter lagen sein Degen und eine Urkunde, die eine besondere militärische Auszeichnung beinhaltete. Auf dem kleinen Tischchen davor brannte stets eine Kerze. Der Platz am Kopfende der Tafel blieb – im Gedenken, dass er dort zu Lebzeiten sein Essen eingenommen hatte – leer, und an Sonn- und Feiertagen brannte auch dort eine Kerze. Einmal wöchentlich besuchten Valentina und Pepe die Kathedrale von Santiago, um für Francisco zu beten, und zu diesem Zweck trug sie – die sich generell auf
Weitere Kostenlose Bücher