Im Schatten des Feuerbaums: Roman
er die ganze Zeit über fortgeführt hatte, verstummten, und er stopfte nahezu verzweifelt die gekochten Birnen in sich hinein. Aurelia senkte verlegen den Blick. Wie konnte Victoria nur so offen von solchen Themen sprechen?
Valentina schien nicht im mindesten erschüttert. »Du bist wahrhaft das Kind deiner Mutter«, stellte sie ruhig fest.
Aurelia war sich nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint war – sie sah nur, wie Victorias Züge sich kurz schmerzhaft verzerrten, ehe sie eifrig fortfuhr: »Es gibt also viel zu tun. In Amerika ist es längst üblich, dass Ärzte eigene Higienistas anstellen, die ihre Patienten betreuen – und vor allem den Frauen beibringen, wie sie ihre Kinder richtig waschen, Krankheiten behandeln und Milch sterilisieren.«
»Ich sehe, du hast Elvira Rawson de Dellepianes Buch über Frauen und die Hygiene gründlich gelesen«, stellte Valentina fest. Erstmals erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht und bewies, dass sie Victorias Engagement für gut befand. »Dennoch: Die meisten Higienistas sind Männer – und Ärzte. Und ein solcher willst du ja offenbar nicht werden.«
Victoria nickte. »Ich habe mich entschieden, eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen.«
Valentina zog die Augenbraue hoch. »Eine Ausbildung? Die Krankenschwestern, die ich kenne, haben ihre Arbeit nie gelernt, sie wurden zu Beginn ihres Dienstes einfach von älteren Pflegerinnen eingewiesen.«
Victoria nickte wieder. »Und das ist ein großes Problem, weil sie auf diese Weise viel zu wenig über Medizin gelernt haben! Aber längst nimmt man sich auch hier ein Vorbild an den Kursen, wie es sie in Deutschland oder Frankreich gibt: Man arbeitet im Krankenhaus, hat dort Dienst an unterschiedlichen Stationen – auch im Operationssaal –, und zusätzlich gibt es Unterricht, den man absolvieren muss. Zu den Fächern zählen die Anatomie und die allgemeine Krankenpflege, die innere Medizin, das Verhalten bei ansteckender Krankheit und bei Geisteskrankheit und noch viele andere Spezialfächer. Am Ende muss man eine Prüfung ablegen – in Anwesenheit des leitenden Arztes, eines geprüften Krankenpflegers und eines Regierungsvertreters, und dann erhält man ein Diplom.«
Valentina sah sie anerkennend an. »Ich sehe, du hast dir genau überlegt, was du willst, und weißt, wie man es am besten erreicht.« Langsam wandte sie sich Aurelia zu, und wie alle ihrer Bewegungen fiel auch diese sehr gesetzt aus. Es war nicht sicher, ob es an ihrem vermeintlich phlegmatischen Geist lag, dem dünnen Haarknoten, der sich allzu rasch aufzulösen drohte, oder einfach, um zu vermeiden, wegen übertriebener Hast zu schwitzen. »Und du?«, fragte sie Aurelia, die sie bis dahin kaum beachtet hatte. »Willst du auch Krankenschwester werden?«
Ehe Aurelia den Mund öffnen konnte, kam Victoria ihr zuvor: »Aurelia ist eine begnadete Malerin. Du musst unbedingt ihre Bilder sehen. Ich finde, sie sollte an der Escuela de Bellas Artes studieren.«
»Aha«, machte Valentina gedehnt. »Aber es ist schon schwer genug, als Frau für das Medizinstudium zugelassen zu werden. Ich weiß nicht, ob sie an der Escuela aufgenommen wird.«
Wieder antwortete Victoria, bevor Aurelia etwas erwidern konnte: »Ich weiß, dass an der Escuela zumindest eine Frau lehrt. Delia Matte de Izquierdo. Sie ist Bildhauerin.«
»Aber du bist keine Bildhauerin«, stellte Valentina fest und fixierte Aurelia. »Was malst du denn?«
Endlich konnte sich Aurelia selbst zu Wort melden: »Ich mache viele Zeichnungen mit Kohlestift – meist Porträts, manchmal andere Motive. Und auf der Leinwand male ich vor allem Landschaften – mit Naturfarben aus Patagonien.«
»In Deutschland können Frauen längst an vielen Orten Malerei studieren«, schaltete sich Victoria erneut ein, »an den Akademien in Königsberg, München und Weimar, an der Schule in Karlsruhe und Berlin …«
Valentina nickte nachdenklich: »Nun, wenn es um die Ausbildung von Krankenschwestern geht, haben die Deutschen hierzulande großen Einfluss. Ob Gleiches auch an der Escuela gilt, bezweifele ich. Aber du solltest es zumindest versuchen, Mädchen, dort deinen Weg zu gehen. Man sollte stets all seine Möglichkeiten nutzen. Ich mag es, wenn Frauen für ihre Ziele kämpfen. Das habe ich auch immer getan.«
So schwerfällig, wie sie dahockte, so schwer war es, sich vorzustellen, dass sie jemals für irgendetwas gekämpft hatte. Aber zu Aurelias Staunen war es ausgerechnet Pepe, der kurz auf
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