Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Frauen gekleidet sind!«
»Pah!«, machte diesmal Victoria. »Das sind bloß die Frauen der gente decente! Die anderen müssen ums Überleben kämpfen. So viel Armut wie hier findet man selten.«
Aurelia achtete nicht auf den strengen Tonfall. Wie viel sie hier zu zeichnen und malen finden würde! Die kunstvollen Fassaden der erstklassigen Geschäfte, die Alleen und Promenaden, die maurischen Brunnen inmitten weiter Plätze, die vielen Stadthäuser aus luftgetrockneten Lehmziegeln und mit prachtvoll geschnitzten Holzbalkons. »Ich habe noch nie so viele schöne Häuser gesehen«, erklärte sie.
»Es gibt hier nicht nur viele schöne Häuser«, schaltete sich Pepe ein, »es gibt hier vor allem auch Unmengen von Tavernen und Bars. Nirgendwo auf der Welt sind die Männer dem Alkohol so ergeben wie hier. Sechs von zehn Arbeitern feiern San Lunes, den heiligen Montag, weil sie sich am Wochenende zu stark betrinken.«
»Kein Wunder bei den schrecklichen Arbeitsbedingungen«, sagte Victoria ernst.
»Dabei ist Trunkenheit ein Verbrechen!«
Aurelia kam kaum mit dem Schauen nach. Noch vor den Bergen waren einige sanfte Hügel zu sehen, bewaldet die einen, mit Häusern bebaut die anderen. Wahrscheinlich waren das die Stadtteile, in die sich die Reichen zurückzogen. Vage erinnerte sie sich daran, dass sie in irgendeinem Journal gelesen hatte, dass Santiago das Paris Südamerikas sei, der Inbegriff der Schönheit und Eleganz. Das sagte sie auch – doch sowohl Pepe als auch Victoria kniffen ihre Lippen zusammen.
»Die Schönheit der einen ist auf dem Elend der anderen gegründet!«, rief Victoria.
»Ein schönes Paris!«, lästerte Pepe. »Seht doch nur die Müllberge! Der Abfall wird hier einfach auf die Straße geworfen, und nur wenn man Glück hat, kommt die Reinigungskolonne vorbei, sammelt ihn ein und verbrennt ihn.«
Er verzerrte sein Gesicht noch schmerzlicher, und Aurelia musste plötzlich lachen. Ganz gleich, was er und Victoria sagten und was sie noch vor wenigen Stunden an Verstörendem erlebt hatten – das Leben schien für einen kurzen Moment so leicht und so verheißungsvoll, und die Freiheit, die sie sich genommen hatte, indem sie einfach mitgekommen war, nicht bedrohlich und überfordernd, sondern wie ein kostbares Geschenk. Am liebsten hätte sie es sofort gemalt – die geraden Straßen, die Bäume, die sie säumten, die Häuser, die vielen Menschen, die Berge dahinter. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie genügend Farben dafür gehabt hätte – all jene Farben, die Freiheit verhießen, alle jene Farben von … Tiagos Stadt.
Man sah Valentina Veliz auf den ersten Blick an, dass sie Pepes Mutter war: Sie war füllig wie er, ihre Haut ebenso fleischig, das Haar etwas dünn – auch wenn es bei ihm über eine beginnende Glatze gekämmt wurde und bei ihr zu einem Knoten aufgesteckt war. Doch während Pepes Stimme nörgelnd klang, erschallte die ihre tief und dröhnend, und während er die Angewohnheit hatte, stets den Blick zu senken, wenn er sprach, ging sie mit hochmütig gerecktem Kinn durchs Leben.
»Es tut mir leid, dass wir so spät sind«, entschuldigte er sich, »aber das ist nicht meine Schuld, die Mädchen haben so viele Fragen gestellt …«
»Und das ist ihr gutes Recht!«, wies Valentina ihn in einem Tonfall zurecht, als würde sie mit einem Dienstboten sprechen. Pepes Magen- oder Zahnschmerzen schienen sich zu verschlimmern, zumindest verzog sich sein Gesicht noch gequälter.
Die Mädchen begrüßten Valentina nicht in den Privaträumen im ersten und zweiten Stock, sondern in der Buchhandlung im Erdgeschoss, deren Eigentümerin sie war und die mittlerweile, wie sie ihnen erklärte, von Pepe geführt wurde.
»So viele Bücher!«, stieß Victoria begeistert aus und sah so aus, als hätte sie am liebsten sofort das eine oder andere durchgeblättert.
Valentina nickte stolz.
»Unsere Buchhandlung ist nicht so groß wie Siglo de Oro«, meinte Pepe dagegen, und es klang weniger bedauernd als vielmehr befriedigt, an allem einen Makel zu finden.
Über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe stiegen sie zu den Privaträumen hoch. Unter Valentinas schwerem Schritt erzitterte jede Stufe. Alles an dieser Frau schien ein wenig zu groß und zu wuchtig zu sein – und dementsprechend fiel auch die Einrichtung ihres Hauses aus: Von allem gab es zu viel – von den schweren Wollteppichen, den Lampen aus gehämmertem Eisen, dem handgemalten englischen Porzellan, den Kristallgläsern und
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