Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Chinavasen, in denen eingefärbte Straußenfedern standen, den Kissen mit Fransen, Pompons und Troddeln, den Leselampen mit Pergamentschirmen.
Aurelia wagte sich kaum zu rühren, aus Angst, sie würde etwas kaputt machen. Nicht nur die ungewohnte Umgebung und Valentina schüchterten sie ein, sondern auch die Tatsache, dass Victoria sie der Herrin des Hauses noch gar nicht richtig vorgestellt hatte. Doch die stellte keinerlei Fragen, und Victoria gab auch keine Erklärung ab, warum sie in Begleitung kam.
»Zeit für das Abendessen!«, verkündete Valentina nur, und Pepe stürzte zum Tisch, als drohte er zu verhungern. Es gab Hühnersuppe, danach mit Schweinefleisch gefüllte Blätterteigpastete und als Nachtisch gekochte Birnen in Buttersauce und Quittenkonfitüre. Trotz seiner vermeintlichen Zahnschmerzen war Pepes Appetit groß genug, um gierig zu essen, und während er alles in sich hineinstopfte – dies war eine Angewohnheit, die Aurelia von nun an öfter an ihm erleben würde –, begann er, Selbstgespräche zu führen. Er murmelte die Worte zwar in seine Serviette, aber sie waren trotzdem gut zu verstehen. »Was würde Mama nur ohne mich machen … sonderlich dankbar ist sie aber nicht. Ich meine, ich habe die Mädchen abgeholt, mich durch das dreckige, enge, stickige Santiago gequält – und am Ende kriege ich nur Vorwürfe zu hören.«
Aurelia war sich sicher, dass auch Valentina jedes Wort mitbekam, aber diese sagte nichts dazu. Stattdessen wandte sie sich mit ihrer dunklen, dröhnenden Stimme an Victoria: »Ludwig und Elvira Kreutz haben also deine Vormundschaft übernommen und führen die Apotheke.«
Victoria nickte. »Die Apotheke können sie gerne haben, aber ich möchte hier bei dir leben.«
Pepe machte wieder ein gequältes Gesicht – offenbar konnte er nicht verstehen, dass jemand freiwillig unter demselben Dach wie seine Mutter leben wollte.
»Emilias Tochter ist mir immer willkommen«, erklärte Valentina. »Ich werde meinen Anwalt bitten, mit den Kreutz’ zu verhandeln, vielleicht überlassen sie mir die Vormundschaft. Allerdings würde ich an deiner Stelle nicht zu leichtfertig auf die Apotheke verzichten.«
»Ich brauche sie nicht«, entgegnete Victoria, und Aurelia wunderte sich über ihren trotzigen Tonfall, als wollte sie sich mit aller Macht von ihrer Vergangenheit befreien.
»Aber das Geld, das dir deine Eltern vererbt haben, wirst du brauchen.«
»Vor allem möchte ich mein eigenes Geld verdienen.«
»Und wie?«
Victoria beugte sich vor – und ihre vermeintliche Gefasstheit bekam Sprünge. Ihr Gesicht war vor Aufregung leicht gerötet, als sie ihre Pläne offenbarte, die sie Aurelia bislang verschwiegen hatte. »Ich habe kurz mit dem Gedanken gespielt, Ärztin zu werden. Wusstest du, dass in der Provinz von Santiago dreihundertfünf männliche Ärzte praktizieren, aber nur vier weibliche?«
»Du willst studieren?«, fragte Valentina. »Das ist etwas ungewöhnlich.«
Aurelia konnte ihren Tonfall nicht recht deuten. Hieß sie es gut, machte sie sich lustig, oder war sie dagegen?
»Nun, wenn ich es wollte, könnte ich es. Die Universidad de Chile hat den Frauen unlängst ihre Pforten geöffnet.«
»Aber du willst es doch nicht?«
Victoria legte energisch ihre Gabel ab. Sie gestikulierte heftig, während sie fortfuhr, und ihr Gesicht rötete sich noch mehr. »Ich will den Menschen helfen, nicht jahrelang Bücher wälzen und mich von Männern schief anschauen lassen. Stattdessen möchte ich so bald wie möglich als Higienista arbeiten – so wie José Salas, Eduardo Moore oder Pedro Láutaro Ferrer. Ein Jammer, dass sie von der Regierung kaum unterstützt werden, obwohl die Verbreitung wichtiger Hygienemaßnahmen doch der erste Schritt ist, das Volk gesund zu halten.«
Aurelia hatte den Namen dieses Berufs noch nie gehört – Valentina dagegen schien er vertraut.
»Wenn du es schon für einen Skandal hältst, dass die Higienistas zu wenig gefördert werden, wirst du des Lebens nicht mehr froh«, sagte Valentina wieder mit unergründlichem Tonfall.
»So oder so – es gibt viel zu tun«, sagte Victoria mit Bestimmtheit. »Die Lebensbedingungen der Menschen, insbesondere der Frauen und Kinder, schreien nach Verbesserung. Wusstest du, dass die Lebenserwartung in den Armenvierteln bei nur zweiunddreißig Jahren liegt? Das ist die niedrigste in ganz Amerika! Vor allem die Prostituierten sterben wie die Fliegen an Geschlechtskrankheiten.«
Pepes Selbstgespräche, die
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