Im Schatten des Feuerbaums: Roman
mindestens einmal wöchentlich neu bezogen –, doch sie hatte kaum auf dem Bänkchen Platz genommen und ihren Malblock geöffnet, als Valentina sie zu sich rief. Es war ungewohnt zu dieser frühen Tageszeit und noch ungewohnter, dass sie bereits zum Ausgehen gekleidet war – genauso wie Pepe.
Aurelia überlegte noch, ob sie einen wichtigen Feiertag oder Gedenktag für Francisco vergessen hatte und Valentina nur früher als sonst zur Kirche aufbrechen würde, als diese schon verkündete: »Victoria beginnt heute ihren Dienst im Krankenhaus. Da wird es Zeit, dass auch du die Tage nicht länger vertrödelst, sondern dein Leben endlich in ordentliche Bahnen lenkst.«
Aurelia lauschte schuldbewusst – Victoria sprach seit Wochen von nichts anderem als ihrer Ausbildung und malte sich die Zukunft, in der sie nichts dem Zufall überlassen wollte, in gestochen scharfen Farben aus, während sie selbst sich lieber vagen Träumen hingab.
»Aber …«, setzte sie an.
»Also los, komm!«, fiel Valentina ihr ins Wort.
Pepe führte eines seiner Selbstgespräche, in denen er sich darüber beklagte, dass er die Buchhandlung heute erst später öffnen konnte und er überdies in diese schreckliche Stadt fahren musste, aber als Valentinas strenger Blick ihn traf, verstummte er ausnahmsweise.
Auch Aurelia fügte sich diesem Blick, holte ihre Malmappe, wie Valentina verlangte, zog sich rasch ihr bestes Kleid an und eilte nach unten, wo Valentina und Pepe bereits in einer herbeigerufenen Droschke saßen.
»Und wohin fahren wir?«
»Nun, wohin wohl?«, gab Valentina mit gleicher Ungeduld zurück, die sie mit Victoria gemein hatte. »Du willst doch die Escuela de Bellas Artes besuchen.«
Sofort wurde Aurelia ganz aufgeregt. Während der Fahrt sah sie nicht viel von Santiago und schaute erst zum Fenster hinaus, als die Schatten von Bäumen auf die Droschke fielen. Sie standen im Parque Forestal, und inmitten des Parks lag die Escuela – gleich neben jenem Museo de Bellas Artes, an dem noch gebaut wurde und das zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit Chiles in einem Jahr eröffnet werden sollte.
Die Droschke hielt, aber Valentina machte keine Anstalten auszusteigen. Nicht nur Aurelia, auch Pepe blickte sie verdutzt an.
»Du willst sie doch nicht alleine gehen lassen?«, fragte er empört. »Warum bin ich denn dann überhaupt mitgekommen und halte den Laden geschlossen?«
»Du bist mitgekommen, weil du mich nie alleine aus dem Haus gehen lässt. Und außerdem gedenke ich, ein paar Einkäufe zu machen. Aurelia aber wird nun allein mit Señor Matías Ponce sprechen. Was man nämlich nicht alleine macht, hat keinen Wert.«
»Aber … aber …«, stotterte Aurelia hilflos und fragte dann: »Wer ist denn Señor Ponce?«
»Das ist der Einzige, den ich kenne, der an der Escuela arbeitet – ich bin nicht sicher, ob als Lehrer oder als Verwalter. In jedem Fall habe ich ihm dein Kommen angekündigt. Du zeigst ihm deine Bilder, und der Rest wird sich fügen. Hinterher kannst du mit der Trambahn nach Hause fahren, die Strecke kennst du ja.«
Pepe blickte sie empört an. »Mutter, wie kannst du sie hier nur einfach aus der Droschke werfen!«
Valentina zuckte die Schultern. »Nun, ich werfe sie nicht aus der Droschke. Wenn du mit mir einkaufen gehen willst, Mädchen, dann kannst du mich gerne begleiten. Wenn du aber tatsächlich Malerin werden willst, dann musst du etwas dafür tun. Ich habe meinen Beitrag geleistet.«
Pepes Mund, den er noch zu aufgebrachter Widerrede geöffnet hatte, klappte wieder zu. Ihm war deutlich anzusehen, was er von Aurelia erwartete: dass sie lieber alle Träume sausenließ, als nur einen Schritt allein in dieser schmutzigen, gefährlichen Stadt zu machen.
Doch Aurelia erhob sich und kletterte aus der Droschke, die Malmappe fest an sich gepresst. Ihr war nicht wohl zumute, aber sie ahnte, dass sie weder Valentina noch Victoria jemals wieder unter die Augen treten könnte, wenn sie hier und heute versagte.
Ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden – das einzige Geräusch inmitten der Stille, die in dem Gebäude herrschte, eine ehrfürchtige Stille im Übrigen, die davon zu künden schien, dass hier schon seit Jahren niemand eine unbedachte Bewegung gemacht oder ein zu lautes Wort gesagt hatte. Aurelia wagte kaum zu atmen, presste ihre Mappe noch fester an sich und hätte sich am liebsten dahinter versteckt. Mit jedem weiteren Schritt fühlte sie sich wie eine Hochstaplerin – vor allem
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