Im Schatten des Feuerbaums: Roman
unerträglich war ihm der Anblick des Kranken.
»Was hast du nur getan?«, stieß er bitter hervor. »Was hast du mir nur angetan?«
Andrés’ Körper erzitterte. Er öffnete seine Lippen, die trocken und wund waren. Speichel tropfte auf sein Kinn.
Und plötzlich wusste Tiago, dass er zu spät gekommen war, dass kein Arzt der Welt mehr Andrés helfen konnte, dass er ihn zwar lebendig angetroffen hatte, aber nie seine wahren Beweggründe erfahren würde, warum er ihn damals schwer verletzt hatte liegen lassen.
»Warum musstest du immer alles zerstören?«, fragte er bitter. »Zuerst mein Leben … dann deines …«
Er erwartete keine Antwort, zu besitzgierig schien der Tod den einstigen Freund in seinen Armen zu halten. Doch zu seiner Überraschung erklang erst wieder ein Stöhnen, dann plötzlich einzelne Worte.
Er verstand sie nicht gleich, aber Andrés wiederholte sie wieder und wieder.
»Es tut mir so leid … es tut mir so leid.«
Tiago beugte seinen Kopf ganz dicht über sein Gesicht. Hatte er ihn trotz des Fieberwahns erkannt?
Aber dann wiederholte Andrés seine Bitte um Vergebung, und diesmal fügte er hinzu: »Vater … es tut mir so leid, Vater …«
Er denkt, dass Ramiro bei ihm sitzt, erkannte Tiago, und plötzlich fiel alles von ihm ab, die Wut, die Erinnerung an den Streit in der Wüste, dieses quälende Leben ohne Erinnerungen, das Andrés verschuldet hatte. Später würde er seinen Freund vielleicht dafür verfluchen, aber jetzt dachte er nicht an das, was sie trennte, sondern was sie immer geeint hatte. Zeit seines Lebens war Andrés wie sein Spiegelbild gewesen, hatte gleiche Zerrissenheit wie er empfunden: den Wunsch, seinen Vater zufriedenzustellen, und sich zugleich gegen ihn aufzulehnen. Und sie hatten beide Aurelia geliebt.
»Ach, Andrés«, seufzte Tiago.
»Ich weiß«, stammelte der andere. Seine Augen waren geschlossen, aber seine Stimme erstaunlich klar. »Ich habe dich enttäuscht … Ich habe nie ein eigenes Krankenhaus geleitet, wie du es dir gewünscht hast. Ich bin nicht einmal ein sonderlich erfolgreicher Arzt geworden. Aber weißt du … selbst wenn ich all deine Erwartungen erfüllt hätte … es hätte meine Mutter ja doch nicht wieder lebendig gemacht.«
Seine Zunge quoll ihm über die Lippen und machte ihm das Reden schwer.
Plötzlich empfand Tiago keine Scheu mehr, ihn zu berühren. Er strich ihm sanft über die glühende Stirn. »Sei ganz ruhig, mein Sohn. Sei ganz ruhig.«
Er wusste nicht, warum er es tat, aber er bettete Andrés’ Kopf auf seinen Schoß, streichelte weiterhin das Gesicht, nahm seine Hand und drückte sie. Morgen würde er sich vielleicht wundern, sich einem Mann so gnädig zu erweisen, der beinahe zu seinem Mörder geworden war, aber in diesem Augenblick war es das einzig Richtige, was er tun konnte.
»Es tut mir so leid …«, stammelte Andrés wieder.
»Es muss dir nicht leidtun. Ich bin stolz auf dich, mein Sohn. Und was immer du angerichtet hast – ich vergebe dir.«
Er sprach die Worte stellvertretend für einen anderen, dem sie so nie über die Lippen gekommen wären – und doch kamen sie aus seinem tiefsten Herzen. Er wusste nicht, ob er auch in seinem eigenen Namen Andrés vergeben konnte – wusste nur, dass er den Frieden genoss, der sich plötzlich über sie senkte und sämtlichen Groll vertrieb.
Andrés’ Körper bäumte sich ein letztes Mal im Fieberwahn auf, dann fiel er schwer auf Tiagos Schoß zurück. Er atmete immer langsamer, immer schwächer, und auf seinen Lippen erschien ein schmales Lächeln, das Tiago unwillkürlich erwiderte.
Als wenig später der Arzt eintraf, war Andrés Espinoza bereits tot.
Der Tod schien an diesem Tag an ihm zu kleben wie ein schwarzer Schatten. Als Tiago das Haus seiner Eltern betrat, spürte er, dass er auch dort gewütet hatte, wenngleich er noch nicht sicher sein konnte, wen er getroffen hatte.
Ein Dienstbote, den er nicht kannte, öffnete die Tür und verzog seine Miene nicht im Geringsten, als er ihm mitteilte, er wäre Tiago, der verlorene Sohn des Hauses. Ohne sichtbares Zeichen von Entsetzen oder Freude wandte sich der Mann ab, um Bescheid zu sagen. Tiago wartete in der Halle, als er plötzlich schnelle, laute Schritte vernahm und sah, wie Saqui die Treppe hinunterstürzte. Sie war runder und älter geworden, und jeder Schritt schien ihr weh zu tun, doch darauf achtete sie nicht, als sie auf ihn zulief und ihn anstarrte wie ein Gespenst. Erst als sie etwa einen
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