Im Schatten des Feuerbaums: Roman
übermächtig das Bild von ihnen auf, vom einstmals kraftstrotzenden Arthur Hoffmann, der am Ende nur ein Schatten seiner selbst gewesen war, von ihrer Mutter, die bis zuletzt vorgab, es ginge ihr gut und sie litte keine Schmerzen. Rasch kniff sie die Augen zusammen, um sich vor der Erinnerung zu schützen, und verließ den Krankensaal, um einmal mehr schmutzige Wäsche fortzubringen. Sie wusste nicht, wo sich die Wäscherei befand, eilte dennoch entschlossen den Gang entlang – und entdeckte an dessen Ende Rebeca vor einem Schrank stehen. Während sie ihren Pflichten nachgegangen war, hatte sie sie aus den Augen verloren, nun blieb sie stehen und beobachtete, wie Rebeca etwas aus dem Schrank nahm, kurz nach rechts und links blickte, als hätte sie Angst, dass jemand sie beobachten würde, und es dann schnell einsteckte.
Ihre Bewegungen waren geschmeidig und weich wie die einer Katze, obwohl ihr Körper knabenhaft wirkte, so schmalbrüstig und sehnig, wie sie war – ein Eindruck, den das kurze Haar verstärkte. Victoria eilte zu ihr, als sie noch etwas aus dem Schrank nahm – und diesmal sah sie, dass es Medikamente waren: ein Abführmittel und eins zur Desinfektion.
»Was tust du denn da? Es hieß doch, wir dürfen Medikamente nur mit Einverständnis eines Arztes verabreichen.«
Wenn Rebeca sich ob ihres plötzlichen Erscheinens erschrocken hatte, so zeigte sie es nicht. In ihren grünen Augen stand vielmehr ein eigentümliches Glänzen.
»Ich habe nicht vor, mit einem Arzt darüber zu sprechen«, erklärte sie und nahm als Nächstes eine Phiole heraus, die mit »Salvarsan 600« beschriftet war. Victoria kannte das Medikament. Es war eine arsenhaltige Phenolverbindung und wurde zur Bekämpfung von Syphilis eingesetzt.
»Du stiehlst die Medikamente?«, erkannte sie fassungslos. Es war das eine, sich hinter dem Rücken von Elvira und Ludwig Kreutz in der eigenen Apotheke zu bedienen, aber etwas ganz anderes, sich hier …
»Warum tust du so empört?«, rief Rebeca leichtfertig. »Vorhin hast du dich selbst über die schlimmen Zustände auf der Kinderstation beschwert. Und es sind nicht zuletzt die Kinder, die Opfer der Syphilis werden, weil sie sich bei ihren Müttern anstecken. Dabei wird es bleiben, wenn wir nichts dagegen tun. Wusstest du, dass es in Santiago über fünfhundert Bordelle gibt und nicht mal fünf Armenärzte, die sich um die Huren kümmern?«
»Aber wenn dich jemand sieht …«
»Du siehst mich. Was wirst du tun?« Sie klang herausfordernd, und der Blick ihrer grünen Augen wurde plötzlich hart.
Diese Frau sollte man sich besser nicht zur Feindin machen, ging es Victoria auf – wobei sie sie auch nicht zur Feindin haben wollte, im Gegenteil. Sie schwieg, und Rebecas Bewegungen wurden wieder katzenhaft, als sie ihr mit einem Mal die Hand auf den Arm legte.
»Ich habe dich beobachtet«, setzte sie raunend an, »damals im Zug … Ich weiß, dass du zu den Mutigen gehörst. Dass du nicht wegsiehst, wenn Unrecht geschieht.«
»Im Zug?« Kurz verstand Victoria nicht, was sie meinte.
»Der Eisenbahnarbeiter, der schwer verletzt wurde …«, fuhr Rebeca fort, »du hast dich mit dem Aufseher angelegt. Ich war die ganze Zeit dabei …«
Victorias Herzschlag beschleunigte sich, als sie an jenen Tag dachte: an den wilden Mann, der sich geprügelt hatte, an den etwas steiferen, der versuchte zu verhandeln – und an den dritten, der sich im Hintergrund gehalten und dem Lokführer ein Bein gestellt hatte.
»Du warst das!«, stieß sie aus. »Ich habe dich für einen Mann gehalten!«
»Ich trage oft Männerkleider, besonders, wenn ich mit meinen Brüdern unterwegs bin.«
»Die beiden sind deine Brüder?« Sie wusste, dass es gefährlich war, hier am offenen Medikamentenschrank zu stehen, obendrein mit der Salvarsan-Phiole in den Händen. Jeden Augenblick konnte sie jemand ertappen! Aber größer als jede Furcht war die Aufregung, wenn sie an den sich prügelnden Mann dachte … den Mann, der sie vor den Schlägen geschützt hatte …
Auch Rebeca ließ keine Hast erkennen. »Ja, es sind meine Brüder«, antwortete sie ruhig. »Juan studiert Jura, und der andere, das ist Jiacinto.«
Jiacinto …
Victoria spürte, wie Röte in ihr Gesicht stieg. »Und was macht er?«, fragte sie begierig. »Studiert er auch?«
»Von wegen!« Rebeca lachte auf. »Jiacinto macht alles und nichts. Er ist Anarchist.«
Victoria schluckte. Sie wusste, dass es viele Anarchisten im Land gab, und hatte
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