Im Schatten des Fürsten
hinwegspringen.«
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Kitai zu. Sie schob den Mantel über die Arme zurück und öffnete eine große schwere Tasche, die aus Maratleder gefertigt war. Daraus zog sie ein gräuliches, beinahe metallisch wirkendes Seil hervor, das fein säuberlich aufgerollt war.
Tavi schaute ihr mit gerunzelter Stirn zu. »Ist das auch eins dieser Seile aus Eismenschenhaar?«
»Ja«, erwiderte sie. Erneut griff sie in die Tasche und zog drei einfache Metallhaken heraus. Die Haken verband sie am Ende mit
einem Stück Lederband, so dass die anderen Enden wie Stahlfinger in alle Richtungen eines Kreises ragten.
»Diesen Ankerhaken haben aber nicht die Marat gemacht«, stellte Tavi fest.
»Nein. Ein aleranischer Dieb hatte ihn. Eines Nachts habe ich ihn beobachtet, wie er in ein Haus eingestiegen ist.«
»Und du hast ihm den Haken gestohlen?«
Kitai lächelte und knotete mit flinken Fingern das Seil an den Haken. »Der Eine lehrt uns, was man anderen gibt, bekommt man auch zurück.« Sie grinste ihn an und entblößte dabei ihre spitzen Zähne. »Auf die Knie, Aleraner.«
Tavi kniete sich hin, und Kitai hob den Haken und ließ ihn über dem Kopf kreisen. Während sie immer mehr Seil nachgab, drehte sich der Haken schneller und schneller. Und nach vier oder fünf Umdrehungen stieß sie ein Zischen aus und schleuderte den Haken mitsamt dem Seil über den Abgrund zum Dach. Drüben klirrte das Metall auf dem Stein.
Sie zog das Seil sehr langsam und vorsichtig straff. Plötzlich wurde es stramm, und sie lehnte sich zurück und erhöhte nach und nach den Zug. »Tavi«, sagte sie, »in der Tasche sind ein Metalldorn und ein Hammer.«
Tavi wühlte in der Tasche und fand die gewünschten Gegenstände. Der Dorn hatte am Ende einen offenen Ring, und sofort begriff Tavi, wozu er diente. Er zog sich den Mantel aus, faltete ihn ein paarmal zusammen und hämmerte den Dorn sorgfältig in den Stein des Aquädukts, wobei der Stoff den Lärm dämpfte. Dabei schlug er den Dorn in einem Winkel genau entgegen der Zugrichtung des Seils ein, und als er fertig war, stellte er fest, dass Kitai ihm zufrieden zugeschaut hatte.
Sie reichte ihm das Ende des Maratseils, das Tavi durch die Öse fädelte. Beim letzten Stück ging er dabei sehr langsam vor, denn Kitai musste den Zug auf den Haken am anderen Ende aufrechterhalten, bis er ihn übernehmen konnte.
Schließlich nickte Kitai heftig und machte eilig einen weiteren
Knoten, den Tavi nicht kannte. Mit diesem Knoten konnte sie das Seil noch fester spannen, und als sie fertig war, richtete sie sich auf und nickte Tavi zu.
Der Junge ließ das Seil allmählich los. Es gab ein leises Sirren von sich und spannte sich nun vom Aquädukt bis zum Turm, und im diffusen Licht der tausende von Elementarlampen der Stadt glänzte es wie der Faden einer Spinne. »So«, sagte er. »Wir hangeln uns am Seil hinüber, um die Erd- und Holzelementare im Rasen zu umgehen. Richtig?«
»Ja«, antwortete Kitai.
»Bleiben also die Windelementare, die um das Dach herum Wache halten«, meinte er. »Und es sieht so aus, als wären da drüben einige Gargyle. Siehst du die dicken Brocken?«
Kitai runzelte die Stirn. »Was ist das, ein Gargyl?«
»Ein Erdelementar«, erklärte Tavi. »Eine Statue, die jedoch dazu imstande ist, die Umgebung wahrzunehmen und sich zu bewegen. Ein Gargyl ist zwar nicht schnell, aber dafür sehr kräftig.«
»Werden die versuchen, uns wehzutun?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach ja«, erwiderte Tavi ruhig. »Sie reagieren vermutlich auf Bewegungen auf dem Dach.«
»Dann sollten wir also den Fuß nicht auf das Dach setzen, ja?« Tavi nickte. »Das wäre eine Möglichkeit. Aber ich sehe leider keinen anderen Weg in den Turm, außer der Tür auf dem Dach. An den Eingängen unten stehen überall Wachen.«
»Gib mir deinen Mantel«, verlangte Kitai.
Tavi reichte ihn ihr. »Was hast du vor?«
»Ich kümmere mich um die Windelementare«, sagte sie. Sie zog sich ihren Mantel ebenfalls aus und tauchte beide in das kalte Wasser des Aquädukts. Nun griff sie erneut in ihre Tasche und holte eine schwere Holzdose hervor, die, wie sich herausstellte, mit Salz gefüllt war. Das streute sie über die feuchten Mäntel.
Tavi schaute ihr verwundert zu. »Ich weiß ja, dass Salz den
Windelementaren wehtut«, sagte er. »Aber bist du sicher, dass das hier funktioniert?«
Kitai hielt inne und sah ihn gleichmütig an. Anschließend warf sie einen vielsagenden Blick auf ihre Kleidung und
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