Im Schatten des Fürsten
ihren Schmuck, dann sah sie wieder Tavi ins Gesicht.
Er hob die Hände. »Gut, gut. Wenn du es sagst.«
Einen Moment später stand sie auf und warf ihm den Mantel zu. Tavi fing ihn auf und zog sich den durchnässten Stoff über. Kitai tat das Gleiche. »Bereit, Aleraner?«
»Bereit wofür?«, fragte Tavi. »Ich habe immer noch keine Ahnung, wie wir hineingelangen sollen, ohne das Dach zu betreten.«
Kitai deutete mit dem Kopf auf die schmalen Fenster im obersten Stockwerk. »Ich steige durch eins der Fenster ein. Warte, bis ich drüben bin, ehe du mir folgst. Das Seil ist nicht stark genug, um zwei zu halten.«
»Dann lass mich lieber vor«, bot Tavi an. »Ich bin schwerer. Wenn es reißt, erwischt es mich.«
Kitai runzelte die Stirn, stimmte jedoch zu. Sie zeigte auf das Seil. »Na, dann los. Lass mir genug Platz, wenn ich rüberkomme.«
Tavi nickte und betrachtete das dünne Seil, das sich hinüber zum Grauen Turm spannte. Er schluckte und spürte, wie seine Finger zitterten. Dennoch zwang er sich vorwärts, bückte sich und packte das Seil. Er hängte sich daran, den Kopf in Richtung Grauer Turm, die Füße über dem Seil gekreuzt. Der Wind blies um ihn herum, das Seil wippte, und Tavi betete, der Haken am anderen Ende möge halten. Endlich begann er, sich vorsichtig und gemächlich zum Turm hinüberzuschieben. Einmal blickte er zurück; Kitai beobachtete ihn. Ihre Augen funkelten vor Schadenfreude, und obwohl sie den Mund mit der Hand bedeckte, ließ sich ihre Belustigung kaum übersehen.
Tavi dachte nur noch daran, sich langsam mit Armen und Beinen und Fingern vorwärtszuschieben und festzuhalten. Er hetzte sich nicht, sondern bewegte sich vorsichtig, bis er den Abgrund
überquert hatte. Drüben entdeckte er eine Fensterbank, auf die er prüfend die Füße stellte, bis er sicher war, dass sie sein Gewicht halten würde. Dann trat er ganz darauf, hielt sich mit einer Hand am Seil fest und sah zurück zu Kitai.
Das Maratmädchen hängte sich nicht an das Seil wie er. Stattdessen setzte sie einfach den Fuß darauf, als wäre es ein breiter Balken aus dickem Holz. Die Hände stemmte sie in die Hüften, und dann spazierte sie einfach über das Seil, wobei es ihr überhaupt nichts auszumachen schien, dass ein Sturz aus dieser Höhe den sicheren Tod bedeutet hätte. Sie brauchte nur ein Drittel der Zeit wie Tavi und hüpfte am Ende herunter, drehte sich in der Luft und landete sicher auf dem Fenstersims neben ihm.
Tavi starrte sie an. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und?«
Er schüttelte den Kopf. »Wo hast du das gelernt?«
»Seiltanzen?«, fragte sie zurück.
»Ja. Das war … ziemlich beeindruckend.«
»Welpenkram. Das machen wir alle, wenn wir klein sind.« Sie grinste. »Früher konnte ich es besser. Ich hätte sogar rennen können.« Sie drehte sich zum Fenster um und spähte durch das Glas. »Ein großer Raum, aber niemand drin.«
Tavi sah ebenfalls hinein. »Ich kann auch niemanden entdecken«, sagte er, zog das Messer aus dem Gürtel und prüfte die Kanten des Glases. Es bestand aus nur einer einzigen Scheibe, die in den Stein eingelassen war. »Wir müssen es einschlagen«, sagte er zu Kitai.
Sie nickte knapp und holte ein dickes Stoffbündel aus ihrer Tasche. Das rollte sie mit einer Handbewegung auf, nahm ein Fläschchen heraus und öffnete es. Ein stechender Geruch breitete sich aus, als sie eine zähe Flüssigkeit auf ihre Hand goss und das Fenster damit einschmierte. Rasch wischte sie sich die Hände mit dem Tuch ab, legte die Stirn in Falten und bewegte die Lippen.
»Was machst du?«, fragte Tavi.
»Zählen«, antwortete sie. »Jetzt hast du mich durcheinandergebracht.
« Sie zählte ungefähr eine Minute lang weiter, dann drückte sie das Tuch an die Scheibe, wo es sofort haften blieb. Nun strich sie den Stoff so gut wie möglich glatt, zog ihr Messer und setzte einen präzisen Schlag auf das Glas.
Knirschend zerbrach die Scheibe. Kitai schlug nochmals an verschiedenen Stellen zu und nahm dann das Tuch wieder ab. Die Scherben, so sah Tavi nun, klebten an dem Stoff. Kitai drückte den Teil, mit dem sie sich die Hände abgewischt hatte, an die Mauer neben dem Fenster, wo es genauso gut haftete wie am Glas.
Sie sah Tavi an und brach noch ein paar Splitter vom Rahmen ab, die nicht am Stoff hängen geblieben waren, legte sie ab und schlüpfte durch das Fenster in den Grauen Turm.
Tavi schüttelte den Kopf und hangelte sich hinüber zu dem Fenster, das sie eingeschlagen hatte, wobei er
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