Im Schatten des Fürsten
ein.«
»Ja, Aleraner«, antwortete sie leise. »Mit unserem Chala . Unseren Totems.«
»Demnach … demnach bin ich also dein Chala ?«
Sie schauderte heftig und schluchzte. Und dann sank ihr Kopf an seine Brust.
Tavi legte den Arm um sie, ohne darüber nachzudenken, und zog sie fest an sich. Das Gefühl überraschte ihn. Nie zuvor hatte er ein Mädchen so im Arm gehalten. Sie war warm und weich, ihr Haar und ihre Haut rochen betörend. Sein Herz klopfte, sein Atem ging schneller, sein ganzer Körper reagierte auf ihre Nähe. Und doch fühlte es sich irgendwie ganz anders an. Diese Empfindungen waren tief und auf unerklärliche Weise echt . Er schloss sie noch ein bisschen fester in den Arm, und gleichzeitig schmiegte sie sich noch enger bei ihm an. Unter den stillen Tränen bebte sie.
Tavi öffnete den Mund und wollte sprechen, doch etwas sagte
ihm, es sei besser zu schweigen. Also wartete er ab und hielt sie einfach nur fest.
»Ich wollte ein Pferd, Aleraner«, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. »Ich hatte schon alles geplant. Ich wollte mit der Schwester meiner Mutter reiten. Zum Horizont ziehen, nur aus dem einen Grund, um zu schauen, was dahinter liegt. Ich wollte im Winde dahinsausen und den Donner der Sommerstürme herausfordern, wenn der Hufschlag meines Clans über die Ebene hallt.«
Tavi wartete. Er hatte ihre linke Hand ergriffen, und ihre Finger verschränkten sich ineinander. Es war so schlicht und doch so innig.
»Und dann kamst du«, sagte sie leise. »Du hast vor meinem Volk Skagara im Horto herausgefordert. Hast dich ins Stille Tal gewagt. Hast mich im Gericht besiegt. Und du hast dein Leben für mich aufs Spiel gesetzt, als du mich einfach zurücklassen hättest können. Außerdem hast du so wunderschöne Augen.« Sie hob das tränenüberströmte Gesicht und blickte Tavi wieder in die Augen. »Ich wollte nicht, dass es dazu kommt. Ich habe es mir nicht ausgesucht.«
Tavi wich ihrem Blick nicht aus. Der Puls an ihrem Hals schlug im gleichen Takt wie sein Herz. Sie atmeten gemeinsam ein und aus. »Und jetzt«, sagte Tavi leise, »bist du hier. Und versuchst, etwas über mich zu erfahren. Alles ist dir ganz fremd.«
Sie nickte langsam. »Das ist noch niemandem von meinem Volk passiert«, flüsterte sie. »Nie zuvor.«
Und dann begriff Tavi ihren Schmerz, ihre Sorgen, ihre Ängste. »Du hast keinen Clan mehr«, sagte er leise. »Keinen Clan bei deinem Volk.«
Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen, dennoch sprach sie mit fester Stimme. »Ich bin allein.«
Tavi wandte den Blick nicht ab von ihr. Er konnte die Qualen unter der ruhigen Oberfläche ihrer Worte regelrecht spüren. Das Mädchen zitterte immer noch, und seine Gedanken und Gefühle wirbelten so unaufhaltsam durcheinander, dass er weder das eine
noch das andere richtig zu fassen bekam. Aber er wusste, Kitai war tapfer und schön und klug, und ihre Gegenwart war ein Geschenk. Er wollte nicht, dass sie zu leiden hatte.
Tavi beugte sich vor und legte ihr eine Hand ins Gesicht. Sie zitterten jetzt beide, und er wagte sich kaum zu rühren, weil er die Magie des Augenblicks nicht zerstören wollte. Eine Zeit lang, er wusste nicht, wie lange, gab es nur sie beide, und er versank in der Tiefe ihrer grünen Augen, in der Wärme ihrer Haut. Er spürte ihre zarten, heißen Hände, die über sein Gesicht und seinen Hals strichen und durch sein Haar.
Die Zeit verging. Es kümmerte ihn nicht, wie viel. Während er Kitai in die Augen schaute, verlor die Zeit alle Bedeutung. Die Zeit war nun für sie da, und nicht umgekehrt. Der Moment dauerte an, solange er eben dauerte, und erst dann durfte die Zeit wieder ihren Lauf nehmen.
Ihre Gesichter berührten sich beinahe, als er mit ruhiger Stimme und aus tiefster Überzeugung sagte: »Du bist nicht allein.«
33
Amara starrte hinunter zu der Räuberhöhle. Cirrus hatte zwischen ihren ausgestreckten Händen mit verdichteter Luft ein Vergrößerungsfeld geformt. »Du hast Recht gehabt«, flüsterte sie Bernard zu. Sie winkte ihn mit dem Kopf zu sich und hielt ihre Hände so, dass er über ihre Schulter nach unten schauen konnte. »Dort, siehst du? Vor der Höhle. Ist das dieses Kroatsch ?«
Auf zweihundert Schritt war der Boden vor der Höhle mit einer zähflüssigen Masse überzogen, die im letzten Sonnenlicht
feucht glänzte. Dieses Kroatsch hatte ein Gebüsch mit einer halbdurchsichtigen Blase von der Größe eines kleinen Hauses eingeschlossen. Die Bäume in der Nähe, überwiegend
Weitere Kostenlose Bücher