Im Schatten des Fürsten
»Bei den Krähen, Max. Sie ist seine Gemahlin.«
Max schüttelte ebenfalls den Kopf, und einige Sekunden später sah er wieder ganz wie er selbst aus. »Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, fragte er. »Wenn ich mich mit ihr gestritten hätte, wäre die Sprache vielleicht auf Dinge gekommen, von denen ich keine Ahnung habe. In weniger als fünf Minuten hätte ich mich verraten. Meine einzige Chance bestand darin, eigenständig eine Lösung zu suchen.«
»Und das nennst du eine Lösung?«, wollte Tavi trocken wissen.
Max schauderte und ging hinüber zu der Nische. Noch im Gehen riss er sich die Kleidung des Ersten Fürsten vom Leib, da er seine eigene anziehen wollte. »Ich musste etwas unternehmen. Sie durfte nicht zu lange nachdenken, sonst hätte sie etwas bemerkt.« Er schob den Kopf in seine Tunika. »Und, bei den Elementaren, Tavi, wenn ich irgendetwas mindestens genauso gut kann wie ein Hoher Fürst, dann ist es das Küssen.«
»Das stimmt vermutlich«, meinte Tavi. »Aber … denkst du nicht, sie müsste wissen, wie ihr Gemahl küsst?«
Max schnaubte verächtlich. »Aber klar doch!«
Tavi runzelte die Stirn und betrachtete Max forschend, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Ist es nicht offensichtlich? Die beiden sind praktisch Fremde.«
»Wirklich? Woher weißt du das?«
»Im Leben von Machtmenschen wie Gaius gibt es zwei unterschiedliche Arten von Frauen. Diejenigen, die sie aus politischen Gründen ehelichen, und die, die sie wirklich begehren.«
»Warum sagst du das?«, wollte Tavi wissen.
Max’ Miene wurde verträumt. »Erfahrung.« Er schüttelte den Kopf und kämmte sich mit den Fingern das Haar. »Glaub mir. Wenn eine Gattin, die man aus politischen Gründen geheiratet hat, etwas nicht weiß, dann das: wie sich das Begehren des Ehemannes anfühlt. Es ist durchaus denkbar, dass Gaius sie seit der Hochzeit nicht ein einziges Mahl geküsst hat.«
»Wirklich?«
»Ja. Und natürlich gibt es im Reich keinen Mann, der es wagen würde, Gaius zu verärgern, indem er eine Affäre mit seiner Angetrauten anfängt. Eine derartige Situation ist für die arme Frau sicherlich äußerst … unbefriedigend. Und das habe ich ausgenutzt.«
Tavi schüttelte den Kopf. »Das ist irgendwie so … so falsch. Ich meine, gewiss verstehe ich, welcher politische Druck hinter den Heiraten der Hohen Fürsten steht, aber … aber eigentlich habe ich gedacht, es würde doch auch um Liebe gehen.«
»Adlige heiraten nicht aus Liebe, Tavi. Den Luxus dürfen sich nur Wehrhöfer und Freie gönnen.« Verbittert verzog er den Mund. »Gleichgültig. Ich hatte keine andere Wahl. Und es hat geklappt.«
Tavi nickte seinem Freund zu. »Scheint tatsächlich so zu sein.«
Max hatte sich fertig umgezogen. »Hm … Tavi? Wir werden davon doch niemandem etwas erzählen, oder?« Er blickte seinen Freund unsicher an. »Bitte.«
»Wovon denn?«, erwiderte Tavi und lächelte unschuldig.
Max seufzte erleichtert und grinste. »Du bist in Ordnung, Calderon.«
»Du weißt doch ganz genau, dass ich dich später damit erpressen werde.«
»Nein. Dazu hast du nicht genug Mumm.« Sie gingen zu der Tür, hinter der eine Treppe hinunter in die Tiefen führte. »Ach, warte«, meinte Max. »Was steht eigentlich in dem Brief von deiner Tante?«
Tavi schnippte mit den Fingern. »Ich wusste doch, ich habe etwas vergessen.« Er griff in seinen Beutel und holte den Brief seiner Tante hervor, faltete ihn auf und las ihn im Licht der Lampe oben an der Treppe.
Er starrte die Buchstaben an, und seine Hände begannen zu zittern.
Max entging die Reaktion seines Freundes nicht, und alarmiert erkundigte er sich: »Was gibt es denn?«
»Ich muss los«, sagte Tavi. Er brachte gerade noch ein Flüstern zustande. »Da stimmt was nicht. Ich muss sie sofort treffen. Auf der Stelle.«
19
Amara erreichte Aric-Hof gegen Mittag. Die Kolonne kam eine halbe Meile vor der Mauer des Wehrhofs zum Halt. Sie standen auf einer Erhebung, von der aus man in die grüne Senke hinunterschauen konnte, in der sich die Gebäude innerhalb einer Umwallung befanden. Bernard setzte sich über die Einwände sowohl des Ritterhauptmanns als auch seines Ersten Speers hinweg und schritt hinunter zu dem verlassenen Hof, um mögliche Bedrohungen auszukundschaften. Kurz darauf kehrte er stirnrunzelnd
zurück, und die Kolonne marschierte schließlich durch das Tor des Anwesens.
Seit Amara zum ersten Mal hier gewesen war, hatte sich vieles verändert, und zwar ausschließlich zum
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