Im Schatten des Galgens Kommiss
zu Bewußtsein, in welcher Gefahr er die ganze Zeit über geschwebt hatte. Dabei fand er vorerst noch keine Erklärung dafür, warum man ihn nicht gleich beim ersten Angriff mit dem Messer erledigt hatte.
Noch, während Jean Embroke sich diese Frage stellte, nahm das Drama dieser Nacht seinen Fortgang. Doch nicht er sollte es sein, dessen Blut den Boden der West-Ferry-Road befleckte, sondern Blut des Gangsters sollte den Ort des Geschehens färben.
So wie sich zuvor schon alles in Windeseile abgespielt hatte, nahm die nächtliche Auseinandersetzung ihren schnellen Fortgang . . .
Kaum daß der Warnruf des Chinesen verklungen war, — denn er war es, der auftragsgemäß das Leben Jean Embrokes beschützen sollte, vernahm der am Boden hockende Seemann einen zischenden Laut. Schon glaubte er, der Messerheld habe seine mörderische Waffe gegen ihn geschleudert, als er plötzlich diesen aufbrüllen hörte. Die immer noch erhobene Hand des Gangsters zappelte einen Moment in der Luft, dann klirrte Metall auf den Boden . . .
„Bleib stehen, sonst bekommst du mein zweites Messer zu spüren", ertönte die Stimme Tschu Ly-Chuangs, als der Killer heulend davonlief und sich keinen Deut mehr um seinen Komplicen kümmerte.
Ruckartig warf Jean Embroke seinen Kopf zur Seite und blinzelte zu der Stelle hin, an der soeben noch sein zweiter Gegner gestanden hatte. Doch sich rasch entfernende Geräusche zeugten davon, daß auch dieser das Weite suchte.
„Tschu Ly-Chuang", hielt Jean Embroke den Gelben zurück, nachdem er erkannt hatte, daß er es war, der ihn aus der verflucht unangenehmen Situation herausgeboxt hatte, und dieser nun hinter den Flüchtenden hersetzen wollte.
„Lassen Sie den Burschen laufen. Es dürfte zwecklos sein, ihn nach seinem Auftraggeber zu fragen."
„Aber Mister Embroke", stoppte der Chink kurz seinen Lauf ab, „wir könnten ihn doch der Polizei übergeben."
„Bleiben Sie!" entschied Jean Embroke zum Erstaunen des Gelben, der seine Verfolgung fortzusetzen gedachte, nun aber der Aufforderung seines ehemaligen Steuermanns nachkam . . .
*
Wenig später standen sich Jean Embroke und Tschu Ly-Chuang auf der West-Ferry-
Road, der Straße, die bald zum Verhängnis des Mannes von der „Susanne" geworden wäre, mit gemischten Gefühlen gegenüber.
Jean Embroke konnte sich noch keinen richtigen Vers darauf machen, warum ihm der Gelbe, mit dem er kaum mehr als zehn Worte am Tage auf der „Susanne" gewechselt hatte, gefolgt war. Durch diesen plötzlichen Überfall hier in der West-Ferry-Road argwöhnisch geworden, hielt er es nicht für ausgeschlossen, daß seine Feinde, die er in London hatte, auch diesen Mann in ihren Dienst gestellt hatten. Zounds, ging es Jean Embroke durch den Sinn, wie anders wäre es dann möglich gewesen, daß man so schnell von seiner Ankunft hier in der Stadt erfahren konnte, wenn nicht ein Mann der „Susanne" seinen Gegnern diese Nachricht übermittelt hätte. War etwa Tschu Ly-Chuang dieser Mann?
Diese Frage war in Jean Embrokes Lage nicht leicht zu beantworten. Er wußte ja nicht, daß es sein ehemaliger Kapitän gewesen war, der ihm den Chinesen zum Schutz mitgegeben hatte. Auch wußte er nichts von dem Manne im Hafenbüro, der Einsicht in die Besatzungslisten der in London vor Anker liegenden Schiffe hatte, und der das getan hatte, was er insgeheim von Tschu Ly-Chuang dachte.
Sein Mißtrauen fand dagegen noch Nahrung durch die ausweichenden Antworten, die ihm der Gelbe auf diesbezügliche Kreuzfragen gab.
Nach Lage der augenblicklichen Dinge konnte Jean Embroke nur dies Fazit ziehen; daß er zwar diesem Gelben für sein entschlossenes Eingreifen zu Dank verpflichtet war. Daß ihm aber dieser Dank nicht die Augen verschließen durfte, trotzdem dem Gelben nicht allzu sehr zu trauen. Ich werde schon noch herausfinden, was mit diesem Tschu Ly-Chuang los ist, dachte sich Jean Embroke im stillen, während er an der Seite des Gelben die West-Ferry-Road hinaufschritt. Tschu Ly-Chuang hatte ebenfalls seine eigenen Gedanken.
Audi ihm leuchtete es immer noch nicht ein, warum es Jean Embroke unterlassen hatte, den Messerhelden der Polizei zu übergeben. Warum hatte er ihn davon abgehalten, den Burschen zu ergreifen? Fürchtete Jean Embroke etwa selbst die Polizei seines Heimatlandes? Hatte er vielleicht genauso viel Schmutz am Stecken, wie dieser Mann, den er nur durch einen schnellen Messerwurf von seiner ruchlosen Tat hatte abbringen können?
Frage über Frage
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