Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
mit denen er dem Domprobst und den Pilgern erklärte, dass die Eigentumsverhältnisse der Gebeine in ihrem goldenen Schrein keineswegs geklärt seien und dass Bruder Antonius im Namen eines mächtigen Kirchenfürsten, der hier nicht genannt werden wollte, durchaus Anspruch darauf erheben konnte. So wie Rinaldo aufschnitt, konnte man zu der Überzeugung gelangen, der Papst persönlich stecke hinter dem vermeintlichen Auftrag des ebenso vermeintlichen Bruders Antonius. Dann machte er sich klar, dass Rinaldo die frommen Pilger und den Domprobst nicht nur belog, sondern gehörig auf den Arm nahm (was er obendrein sichtlich genoss), und das Lächeln auf Ulrichs Gesicht schwand.
Plötzlich erinnerte er sich an seine eigene Wallfahrt zum Schrein des heiligen Jakobus, an die Angst während der ersten Tage der Reise vor Überfällen, an die Furcht, von schlechtem Wasser, schlechtem Essen oder schlechter Luft das Fieber zu bekommen, an die Sorge, nicht mit den anderen Pilgern mithalten zu können, weil der Körper die Strapaze des ständigen Fußmarsches nicht gewöhnt war, und vor allem – mit jeder Meile, die sie sich dem Ziel näherten – an die Befürchtung, nicht bis zum Schrein des heiligen Apostels vordringen zu können, weil die Menschenmassen zu zahlreich waren. Zugleich quälte ihn die Schreck erregende Erinnerung an Berichte über Pilger, die bei einer Massenhysterie totgetrampelt worden waren. Und am Ziel, wenn alle Sorgen der Reise vergessen waren, lauerte der größte aller Schrecken: Vor dem Schrein zu stehen und erkennen zu müssen, dass man der Erleuchtung und Gnade des Herrn unwürdig war und der eigene Lebensweg in eine Sackgasse geführt hatte.
Auch diese Erfahrung war Bruder Ulrich erspart geblieben … wenn man ehrlich sein wollte, hatte er angesichts des Schreins überhaupt keine neue Erfahrung gemacht, höheren Bewusstseins oder nicht, und nur ein einziger Gedanke hatte ihn beherrscht: Wäre ich nur schon wieder zu Hause und könnte meine Füße in ein Kräuterbad stecken! Ungeachtet der eigenen offensichtlichen Oberflächlichkeit war Ulrich überzeugt, dass ein Pilger Besseres verdient hatte, als vor dem Ziel seiner Wünsche von einem gottlosen italienischen Aufschneider verspottet zu werden …
… den ein ebenso gottloser Mönch zu seinem Tun ermächtigt hatte.
Ulrich schüttelte sich. Alle Sünden waren im Vorhinein vergeben, die Absolution schon ausgesprochen? Absolution spielte sich vor allem im eigenen Gewissen ab, und Ulrich ahnte, dass sein Gewissen ihn dieser Geschichte wegen noch lange plagen würde. Er wandte sich ab und verließ die Kirche; er musste Rinaldo bei seinem sündigen Tun ja nicht auch noch zusehen.
Er hatte sich den Weg vom Heiligen Knochen zum Dom eingeprägt. Es blieb zu hoffen, dass seine Erinnerung ihn jetzt nicht trog. Er hätte sich nach Jörg von Ahaus umsehen können, um sich von ihm zur Herberge bringen zu lassen; doch er hatte Jörg gebeten, auf den kleinen Sänger Acht zu geben und diesen, wenn sein loses Mundwerk ihn in Schwierigkeiten brachte, gegebenenfalls herauszuhauen. Genau das, sagte sich Ulrich, zeichnet einen guten Herrn und Befehlshaber aus: die Sorge um seine Männer. Nicht dass er sich jemals gewünscht hatte, ein Befehlshaber zu sein; aber wenn er es schon sein musste, wollte er wenigstens die nötigen Anforderungen erfüllen.
Das Beste war, sich nicht ablenken zu lassen. Wenn man vor dem inneren Auge die Bilder aufrief, die man auf dem Herweg gesehen hatte, musste es ein Leichtes sein, sich mittels dieser Bilder den Rückweg zu erschließen. Ulrich starrte auf seine Zehen, die mit jedem Vorwärtsschreiten unter der Kutte sichtbar wurden, und bemühte sich, sich die Bilder vors innere Auge zu holen. Die Gassen um den Dom sahen alle gleich aus, das war ein Problem, doch er musste sich nur die Besonderheiten der Mauerkanten ins Gedächtnis rufen, die die Gassenecken bildeten: eine Beschädigung etwa, oder eine auffällige Farbe, oder die Wassermarke von einer lange zurückliegenden Überschwemmung, und das Problem war gelöst. Hatte er daran gedacht, sich umzudrehen und die Hausecken zu mustern, als sie beim Herkommen auf den Kirchplatz hinausgegangen waren? Nun, das war ja lächerlich … tatsächlich, die Hausecken ähnelten einander auch wie ein Ei dem anderen … hmmm, vielleicht gab es wirklich ein Problem. Ulrich betrachtete angestrengt seine Zehen … erinnere dich, erinnere dich … die anderen schafften es doch auch, bewegten sich
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