Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
hatte ihren verkrampften Griff um das Heft des Messers gelockert und die Verfolgung wieder aufgenommen. Sie wich der Frage aus, was sie unternommen hätte, hätte das Ungeheuer dem Betrunkenen und seiner Tochter etwas angetan.
Die Gegend, in die sie der dunklen Gestalt folgte, wurde immer schäbiger; die Menschen zogen sich von den Gassen in finstere Hauseingänge zurück oder wandten sich einfach ab. Falls es jemandem auffiel, dass eine junge Frau mit hundert Schritt Abstand einem Mönch folgte, ließ es sich keiner anmerken. Wenigstens bestand hier nicht die Gefahr, dass jemand den zuständigen Schöffen alarmierte, wenn sie das Ungeheuer angriff.
Die Gebäude an den Gassenrändern waren schmutzig und halb verfallen gewesen, doch hatten Menschen darin gewohnt. Nach ein paar Schritten bog der Mönch unvermittelt ab, und sie gerieten zwischen Lagerhäuser und Stadel, in denen keine Menschen wohnten und wo kein Händler, der noch bei Sinnen war, seine Ware gelagert hätte. Von den Ladegalgen vor den Trockenspeichern baumelten zerfranste Stricke, die denen an wirklichen Galgen bedrückend ähnlich sahen. Die Fensteröffnungen darunter waren nicht alle mit Brettern verschlagen, und wo man hineinsah, erblickte man den Himmel, fein säuberlich aufgeteilt in lange rechteckige Schnitte: diesen Häusern fehlte das Dach, und bei nicht wenigen war sogar der sichtbare Dachstuhl so schadhaft, dass sich nicht einmal die Raben auf die leer in den Himmel ragenden Balken setzten, aus Furcht, das Haus könnte unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Eine freie Fläche war von Schutt bedeckt, auf dem Gestrüpp wucherte: ein wenigstens hundert Schritte langer Schnitt wie eine schlecht verheilte Narbe, hinter dem sich noch schäbigere Ruinen von Holzhäusern und weitere Stadel erhoben, die zwar neuer wirkten, dafür aber primitiv aus Fachwerk und verschlämmtem Stroh errichtet waren.
Barbara glaubte zu wissen, wo der Mönch hinwollte. Der düstere Bereich – sichtbarer Ausdruck, dass sich hier vor der letzten Stadterweiterung die Mauer und der traditionell angrenzende Bereich der Armen befunden hatte, was dem Viertel noch immer anzusehen war – trennte die Gegend von Sankt Pantaleon von den älteren Bereichen der Stadt. Die wüste Fläche markierte eine Länge des ehemaligen Mauerverlaufs; die Mauer selbst hatte man an dieser Stelle bereits abgerissen, um Baumaterial für die neue Stadtbefestigung zu erhalten, die ein paar hundert Schritte weiter draußen verlief und bislang, außer durch einen Graben und einen dahinter aufgeschütteten Wall, kaum von Bedeutung war. Als Barbara auf die freie Fläche hinaustrat und sich nach Osten umwandte, sah sie die Türme des alten Georgstores über den verfallenen Dächern der Gebäude aufragen.
Und was den Mann betraf, dem Barbara sich an die Fersen geheftet hatte: Bei Sankt Pantaleon befand sich ein Hospiz der Barfüßer. Wahrscheinlich war das Ungeheuer auf dem Weg dorthin. Eine bessere Tarnung hätte man sich nicht denken können: Der Wolf residierte in der Schafherde und kam nur heraus, um sich nach seiner nächsten Beute umzusehen. Vermutlich zitterten alle Bettelbrüder in der Hospizgemeinschaft vor Antonius und dankten Gott, wenn er auf Beutezug war und die Welt außerhalb der Klosterpforte terrorisierte.
Der Mönch tauchte in die holprige Gassenlandschaft jenseits der freien Fläche ein und schlenderte in der Mitte einer Gasse entlang. Das Schlappen seiner Sandalen brach sich an den Gebäuden und zersplitterte in leise Echos. Barbara glitt auf ihren Tuchschuhen völlig ohne jedes Geräusch näher, plötzlich kurzatmig und schweißgebadet. Als sie zwanzig Schritte von ihm entfernt war, wurde ihr auf einmal klar, dass sie verloren war, wenn Bruder Antonius sich gerade in diesem Augenblick umdrehte. Barbara hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, was ein Kriegsknecht empfand, der über die deckungslose Fläche vor einer Stadtmauer stürmte, während von oben die Bogenschützen auf ihn zielten, doch sie nahm an, dass es ähnlich dem war, was in ihrer Seele vorging. Wenn er sich umdrehte und sie auf sich zustürmen sah, brauchte er nur eine Hand zu heben, sie zu packen und festzuhalten – bei seiner Größe konnte er sie sich mit ausgestrecktem Arm vom Leibe halten und um Hilfe rufen (wenn er es nicht vorzog, ihr eigenhändig auf der Stelle das Genick zu brechen). Ihr Atem pfiff durch die zusammengebissenen Zähne. Eine Strecke von zwanzig Schritten. Wie lang sie war! Barbara spürte
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