Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
schrien alle durcheinander, eine Kakophonie, über die sich die Worte Reliquie, Schädel, Albo und hochwürdiger-Herr-Antonius mühsam durchsetzten. Ulrich stand wie festgenagelt. Er sah, wie Jörg sich in Bewegung setzte.
Ein Mann tauchte plötzlich vor ihm auf, fiel auf die Knie und begann in schrillem Diskant zu reden. Ulrich verstand kein Wort und wähnte einen Moment lang, der Mann spreche eine fremde Sprache, bis er die gleichen Worte heraushörte, die sich auch aus dem allgemeinen Gebrüll herausfiltern ließen. Der Mann zupfte an seiner Kutte und gestikulierte mit eindeutigen Bewegungen auf seinen Oberkörper. Ulrich blinzelte. Jörg sprengte eine Gruppe auseinander, die sich in die Haare geraten war, wurde in seinem Vormarsch aber geringfügig aufgehalten. Rinaldo war nirgends zu sehen, wenn er nicht in dem Aufruhr, den die Verrückten hier veranstalteten, zu Boden gegangen und plattgetrampelt worden war. Der Mann zupfte stärker an Ulrichs Kutte und deutete wieder Formen an seinem Oberkörper an, die, wären sie gewesen, als was Ulrich sie interpretierte, und hätten sie sich am Oberkörper einer Frau befunden, diese unweigerlich nach vorn hätten kippen lassen. Das Gesicht des Mannes glühte vor Eifer. Ulrichs Blicke huschten durch die Schänke – und plötzlich explodierte die Wut in ihm, die vor dem Eingang erwacht war.
»ruhezumteufelnochmal!«, brüllte er.
Das Japsen und Hecheln und Kreischen verstummte schlagartig. Eine quietschende Stimme gellte in die abrupte Stille: »Die Titten der heiligen Magdalena, Hochwürden!«, und kam mit einem Misslaut ebenfalls zur Ruhe. Der Mann auf dem Boden vor Ulrich klappte den Mund zu und starrte erschrocken zu ihm auf. Ulrich gab den Blick nicht weniger erschrocken zurück. Sein Zorn war verflogen. Was hatte er eben gebrüllt? Er hob die Hand, um sich zu bekreuzigen. Der Mann auf dem Boden zuckte zurück.
Dann war Jörg an seiner Seite, und der kniende Mann war verschwunden. Ulrich sah ihn aus dem Augenwinkel unter eine Bank schlittern und dort zwei der anderen Verrückten zu Boden reißen. Jörg stellte seinen rechten Fuß auf die Erde zurück.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte er leise und verbeugte sich demonstrativ. »Wo warst du?«
»Was sind das für Unselige?«, flüsterte Ulrich zurück.
»Sie warten alle auf dich. Besser gesagt, sie warten auf Bruder Antonius.«
»Sind das …?« Ulrich blickte vorsichtig an Jörg vorbei und schaute in die aufgerissenen Augen, sah die geblähten Nasenflügel und die eifrig geöffneten Münder, aus denen kein Laut mehr kam. Wohin er auch sah, richtete der Betreffende sich halb auf und sank wieder in sich zusammen, als Ulrichs Blick weiterwanderte.
»Genau«, sagte Jörg.
»Und die alle haben … Sankt Albo …?«
»Zweifelhaft«, sagte Jörg. »Aber sie haben irgendwas. Und das wollen sie dir anbieten.«
»Aber ich will nur …«
»Vielleicht ist er ja dabei.«
Ulrich spürte, wie ihm schwindlig wurde. »Wo ist Rinaldo?«, fragte er schwach.
»Keine Ahnung.«
»Aber hat er … ich dachte, er hätte all diese Leute geschickt?«
»Das dachte ich auch. Vielleicht ist er gerade mit weiteren zwei Dutzend Knochenhändlern auf dem Weg hierher.« Ulrich sah ihn an, und Jörg zuckte mit den Schultern. »War nur Spaß.«
»Ehrwürden!«, rief jemand aus der Menge. »Ehrwürden, darf ich Euch …«
»Nein, Heiligkeit, kommt zu mir!«, rief ein anderer.
»Ich habe, was Ihr sucht.«
»Nein, ich!«
»Ich hab was viel Besseres …«
Jörg drehte sich um, und die Rufer verstummten.
»Was soll ich denn jetzt tun?«, sagte Ulrich.
»Jetzt werden wir verhandeln«, sagte eine bekannte Stimme an seiner Seite. »Andiamo, amici!«
Dass Rinaldo Ulrich dazu gebracht hatte, Jörgs Dienste anzunehmen, erwies sich als vorausschauend. Ulrich war sicher, dass die Meute professioneller, halbprofessioneller und Möchtegern-Reliquienhändler den kleinen Italiener schwerlich als Hindernis auf dem Weg zu ihm in die Kammer betrachtet hätte. So aber stand Jörg am Fuß der hölzernen Treppe, und es versuchte nicht einmal jemand, an ihm vorbeizukommen. Währenddessen sortierte Rinaldo die Erfolg versprechenderen Angebote aus dem blanken Unsinn aus. Es war noch genügend Idiotisches vorhanden, dass Ulrich die feinen Härchen auf seiner Tonsur zu Berge standen, doch wie hatte Rinaldo geflüstert? »Keine wird dir die Albo gleich zu Anfang anbieten. Hör dir erst an, was sie sonst noch haben, und lehn alles ab. Irgendwann kommen
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