Im Schatten des Klosters - Historischer Roman
willst?«, fragte er. »Die Gedränge wird noch schlimmer sein als gestern.«
»Dann musst du eben auf mich aufpassen.«
»Du könntest mich verlieren …«
»Dann finde ich irgendeinen Gassenjungen, der mich hierher zurückbringt.« Ulrich streckte den Arm über den Tisch aus und klopfte Rinaldo auf die Schulter. »Danke für deine Sorge, mein Freund. Ich verspreche dir auch, ich werde so finster und arrogant dreinblicken wie ein päpstlicher Legat, um deine Reden zu unterstützen.«
»Aber …«
»Iss und trink noch was«, sagte Ulrich. »Du musst ja wieder die Hauptarbeit verrichten. Ich gehe noch für einen Moment nach oben und bete dafür, dass dein Plan heute die ersehnten Früchte trägt. Und sagt dem Wirt, er soll seine Magd auf den Markt schicken. Wenn es klappt, breche ich heute Abend mit euch das Fastengebot.« Ulrich zwinkerte ihnen zu Rinaldos unendlichem Erstaunen zu. »Mein ehrwürdiger Abt hat gesagt, alle Sünden auf dieser Mission seien mir im Vorhinein vergeben.«
Rinaldo sah ihm nach, wie er die Treppe hinaufstapfte. Jörg steckte zwei Finger in den Mund und pfiff nach dem Wirt. Ulrichs schwere Schritte verklangen; bald waren sie leise durch die Decke des Schankraums zu vernehmen, als er über den kurzen Gang im Obergeschoss zur Kammer marschierte. Es gab viele Arten von Verrat, und einem Kunden seines Brotgebers ein Messer zwischen die Rippen zu rammen war im Vergleich gesehen nicht so schlimm wie das, was Rinaldo vorhatte.
»In diese Gasse bin ich gestern hineingegangen«, sagte Ulrich und streckte einen Finger aus, als sie auf dem Domplatz angekommen waren. »Ich dachte, sie müsse mich auf direktem Weg zur Herberge führen, weil sie nach Süden verläuft …«
Ich kann es nicht tun, dachte Rinaldo. Laut sagte er: »Ja, aber die Herberge liegt von die Dom aus gesehen in Westen, bei altes Peterstor.«
Ulrich verdrehte die Augen. »Es ist hoffnungslos. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es wirklich diese Gasse da war, die ich genommen habe.«
Ich bringe es nicht übers Herz, dachte Rinaldo. Aber wenn ich es nicht tue, kann ich die Stelle bei Tiberius vergessen. Er hat gesagt, er wartet nicht auf mich. Das Risiko ist zu groß. Meine Zukunft hängt daran.
»Als wir vom Kloster aufgebrochen sind, hatte ich nicht die geringste Hoffnung, dass ich meine Aufgabe je erfüllen würde«, erklärte Ulrich, der die Gasseneingänge musterte, wobei er ein Gesicht zog, als würden sie ihn auslachen. »Alles was ich hatte, waren deine Fröhlichkeit und dein Glaube, dass wir es schaffen. Ich wusste, wenn wir versagen, würde ich nur noch ein einziges Mal in die Klostergemeinschaft zurückkehren: um endgültig Abschied zu nehmen. Die Reliquie hält die Gemeinschaft zusammen, egal, welche hehren Gedanken Bruder Fredegar uns mitgebracht hat. Die Brüder brauchen das Symbol. Verstehst du, Rinaldo …«
Ulrich wandte sich zu Rinaldos Schrecken plötzlich um und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Ulrichs Augen leuchteten.
»Hätten wir den Schädel nicht gefunden, hätte die Suche danach das neue Symbol unserer Gemeinschaft werden müssen. Und das bedeutet, ich hätte das Kloster verlassen müssen und auf eine Fahrt gehen, die nie ans Ziel führt … schlimmer als Parzivals Suche nach dem Gral. Irgendwann hätten sie vergessen, dass der Schädel tatsächlich in seinem Schrein hinter dem Altar gelegen hatte; stattdessen hätten sie ihn als ihren Schatz in der Diaspora betrachtet. Wahrscheinlich hätten sie in den ersten Jahren noch für mich gebetet; dann hätten sie auch mich vergessen. Und es wäre ja auch vollkommen egal gewesen, ob ich lebe oder ob meine Gebeine in irgendeinem Straßengraben vermoderten, solange ich nicht ohne den Schädel zurückkehrte und ihnen damit das nahm, woran sie ihren Glauben hefteten.«
»Ich wusste nicht, dass deine Glück so stark von diese Schädel abhängt«, brachte Rinaldo hervor.
»Wie solltest du auch. Ich habe es für mich behalten, um dir nicht noch mehr Last aufzubürden. Anfangs war es mir nicht so klar, aber mittlerweile weiß ich, dass ich ohnehin keine Wahl hatte, als das Risiko anzunehmen. Alles andere wäre Verrat an Vater Remigius und allen Brüdern der Gemeinschaft.«
Ulrich nahm die Hände von Rinaldos Schultern und steckte sie in die Ärmel seiner Kutte. Er holte tief Atem.
»Deine Pläne haben meine Verzweiflung in Erwartung und das Risiko in eine Herausforderung verwandelt. Der Himmel hat dich geschickt, Rinaldo, das dachte ich von Anfang an,
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