Im Schatten des Krans: Ein historischer Kriminalroman aus Hamburg (German Edition)
gelassen haben. Oder es hat mir einer geklaut.«
Vor der Tür waren laute Schritte zu hören, dann stapfte Kapitän Westphalen mit einem jungen Mann ins Kontor. Der war so braungebrannt, als hätte er das ganze Jahr über auf den Feldern gearbeitet, sein Kopf verschwand fast unter einer blonden Wuschelmähne, und die Augen waren von einem solchen unglaublichen Blau, dass Moritz ihn immerzu anschauen musste.
»Das ist Michael Weinhold«, sagte der Klabautermann. »Herr Weinhold kommt von der Ostsee. Aus Stralsund. Er hat geradesein Patent erhalten und ist ab morgen der zweite Steuermann auf der B ÜRGERMEISTER B EHNKE .«
Der frischgebackene Steuermann streckte die schwielige Hand aus. Sein Händedruck zerquetschte Moritz fast die Fingerknochen.
»Herr Weinhold muss vor der Abreise noch einiges erledigen, doch er kennt sich in Hamburg nicht aus. Deshalb wirst du, Moritz, ihn herumführen.«
Moritz nickte artig, innerlich jauchzte er. Dieser Auftrag bedeutete einen freien Tag an der frischen Luft, mit viel Glück sogar zwei. Außerdem war ihm Michael Weinhold mit seinem jungenhaften Lachen sympathisch. Doch plötzlich kamen ihm Bedenken. »Herr Harms hat gesagt, dass ich nicht zu lange wegbleiben darf.«
Der Klabautermann schnappte empört nach Luft, seine Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. »Keine Widerrede. Der Befehl eines Kapitäns ist gleichrangig mit Gottes Gebot. Jede Widersetzlichkeit wird mit Kielholen bestraft.« Er blickte düster in Richtung Binnenhafen. »Mit dem Kontoraufseher, dieser Landratte, werde ich noch ein Wörtchen reden.«
Abrupt wandte er sich den beiden zu. »Und ihr verschwindet jetzt von Bord. Wir sind hier nicht in einem Debatierclub.«
»Aye, aye, Sir«, brüllte der Steuermann und war mit zwei großen Schritten aus der Tür.
»Aye, aye«, stammelte Moritz und rannte hinterher.
Zuerst führte er den Steuermann zu Wilhelm Stehr und achtete streng darauf, dass der Seemannsausrüster keine allzu überhöhten Preise nahm. Dann schlenderten sie gemeinsam über den Hopfenmarkt und durch die Rathausstraße zum Alsterbecken.
Auf dem Jungfernstieg blieb der Steuermann stehen und beobachtete die dichtgedrängte Menge. Schließlich schüttelte er unwillig den Kopf. »Was machen all die Leute hier? Haben die nichts zu tun?«
Moritz schwieg.
»Alles Stutzer, eitle Nichtsnutze. Und was soll man mit den Frauen in diesen merkwürdigen Kleidern anfangen? Man weiß überhaupt nicht, wie die darunter aussehen. Da lobe ich mir das einfache Leben an der Küste.«
Sie gingen zum Binnenhafen zurück, an den Kajen entlang, vorbei an Schänken, Seemannsausrüstern, Schiffshändlern und den Trödlern, bei denen es alles zu kaufen gab, von Pütt un Pann bis hin zu den Mitbringseln der Seeleute aus aller Welt. Steuermann Weinhold genoss offensichtlich den freien Tag, doch etwas schien seine Stimmung zu trüben. Die beiden setzten sich auf einen Poller und beobachteten die Ewerführer, die ihre Schuten zur Hohen Brücke stakten. Hinter ihnen rumpelte ein Pferdefuhrwerk über das Straßenpflaster. Der Steuermann verfolgte den mit Bierfässern beladenen Wagen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Ich habe gerade die Prüfung vor der Nautischen Commission bestanden«, sagte er. »Jetzt kann ich als Steuermann auf Hamburger Schiffen fahren. Doch etwas stimmt nicht. Ich fühle mich immer noch wie ein Matrose. Ich brauche ein Zeichen meiner Würde. Etwas, was die Mannschaft nicht hat.«
Moritz überlegte. Er ging all die Männer durch, die er kannte und die über normale Menschen hinausragten. Zuerst fiel ihm Kapitän Westphalen ein. Was unterschied ihn von einem Matrosen? Eigentlich alles, aber nichts Auffälliges. War es sein düsteres Gesicht? Seine eintönige schwarze Kleidung? Nein, der Klabautermann war Kapitän von innen heraus, der brauchte keine äußerlichen Zeichen.
Wie ist es bei Vater?, dachte er. Der ist immerhin im Vorstand des Quartiersmannvereins. Doch auch er trug keinen Schmuck, der ihn auszeichnete. Nur die silbernen Knöpfe an der Jacke, doch die trug jeder Quartiersmann. Trotzdem würde wohl niemand auf die Idee kommen, Johann Forck als Tagelöhner zu bezeichnen.
Als nächstes fiel Moritz der Patron ein. Caesar Schröder trug einen Kneifer. Sicherlich trugen Matrosen keine Kneifer, jedenfalls hatte Moritz noch nie einen Seemann mit Sehhilfe gesehen.
Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Nein, ein Kneifer ist nicht das Richtige.«
Doch Caesar Schröder hatte noch
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