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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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weiter, streifen mit frischem Schnee beladene Kiefernzweige und winden uns immer höher und höher, fast unsichtbar in der tiefen Nacht. Wir legen fast einen Kilometer zurück, bevor Abreg wieder das Wort ergreift. »Was warst du vor dem Krieg?«
    Das weiß er bereits. Er weiß Dinge über mich, die ich nicht mal Valja erzählen würde. Drogen und Folter bringen den stärksten Mann dazu, zu plaudern wie ein betrunkenes Schulmädchen. Aber Reden ist eine willkommene Ablenkung von der Kälte, also antworte ich trotzdem.
    »Gefangener in Isolator 5.«
    »Wie alt warst du da?«
    Mein Rotschimmel niest und stößt eine Fontäne feuchter Luft aus. Fahles Mondlicht blitzt durch die Wolken und lässt für einen Moment deutlich die gezackten Umrisse eines Gebirgskammes erkennen.
    »Niemand ist alt genug für diesen Ort.«
    »Was hattest du verbrochen?«
    »Zu viel, um es aufzuzählen.«
    »Du hast eine Menge Cargo 200 in deinem Kielwasser, Volkovoj«, sagt Abreg, ein Euphemismus der russischen Armee für den Transport von Toten.
    Unser Anführer bringt sein Pferd zum Stehen und kontrolliert im Licht der Laterne auf einer Karte die Route. Ein anderer Reiter, der Vater der Zwillinge, wie ich glaube, lässt sein Pferd an uns vorbeitraben. Die beiden beraten sich flüsternd, dunkle Gestalten im Nebel, eine Szene, die sich genau so auch vor tausend Jahren hätte abspielen können.
    »Die Jungs«, erklärt Abreg und weist nach hinten, während er weiter die beiden Männer vor uns beobachtet. »Das sind Zwillinge. Ich kannte ihre Mutter, bevor das alles hier anfing... vor dem Krieg.« Mit seinem buckligen Rücken sieht seine Silhouette aus wie die eines in ein Leichentuch gehüllten Kobolds. »Ich bin jetzt für sie wie ein zweites Elternteil. Vielleicht habe ich mich nicht genug um sie gekümmert, aber ich glaube, es hätte nicht viel geändert, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte.«
    Ein dritter Mann gesellt sich zu den beiden mit der Karte. Sie stecken die Köpfe zusammen und tuscheln weiter.
    »Wir können hier weder Funkgeräte noch Telefone benutzen«, sagt Abreg. »Die Drohnen sind heutzutage überall. Und sie orten die Signale extrem schnell. Aber wem erzähle ich das.«
    Ein Windstoß bläst mir eine ganze Ladung nassen Schnee in den Nacken.
    »Einer der Zwillinge, der mit den Narben, wurde bei einem Grenzübergang in der Nähe von Tschiri-Jurt gefangen genommen. Kanntest du dort jemanden? Sie warfen den Jungen in einen Lkw und brachten ihn in ein Filtrationslager. Dort banden sie ihn an einen Pfahl und schlugen ihn mit Plastik-Colaflaschen, die mit Wasser gefüllt waren. Nach ein paar Tagen ließen sie ihn gegen ein Lösegeld von dreitausend Rubel gehen.
    Einer seiner Cousins hatte nicht so viel Glück. Sie verpassten ihm Stromschläge mit einem alten Telefon. Als sie genug davon hatten, ihn rumhüpfen zu sehen, nahmen sie ihn aus wie ein Schwein. Für die Leiche bekamen sie tausend Rubel. Der Preis war so hoch, weil die Soldaten wussten, wie viel Kummer es der Familie bereiten würde, wenn keine Beerdigungszeremonie stattfinden könnte.«
    Die Lagebesprechung vor uns ist beendet. Wir kämpfen uns mehrere Stunden lang weiter durch die Wildnis. Zwei Finger an meiner linken Hand scheinen nicht mehr zu mir zu gehören, genau wie mein amputierter Fuß. Und immer noch schlängeln wir uns den Berg hinauf und machen nur gelegentlich Halt, bis die Anführer wieder wissen, wo es weitergeht.
    »Gehst du in die Kirche, Volkovoj?«
    »Nein.«
    »Kennst du dich mit der russischen Messe aus? Die stundenlange Liturgie mit all ihren Gesängen? War es Tschechow, der das so wunderbar in seiner ›Osternacht‹ beschrieben hat?«
    Ein frischer Wind treibt den Geruch von brennendem Holz herüber.
    »Russen beten mit offenen Augen, um mit der Ikone verschmelzen zu können. Ich habe gehört, dass die Ikone spirituelle Kraft besitzt. Sie schenkt den Gläubigen Lebenskraft und zeigt ihnen den Weg in die Heiligkeit. Kannst du verstehen, warum manche von uns glauben, dass das Schlimmste, was man einem Russen antun kann, ist, ihm die Augen herauszuschneiden?«
    Die Pferde springen über eine Schneewehe.
    »Glaubst du das, Abreg? Bist du so dumm und so abergläubisch?«
    Seine Antwort verliert sich im Wind.
    »Was?«, brülle ich.
    »Ich sagte, das bin nicht ich. Erinnerst du dich, dass ich das einmal zu dir gesagt habe? Das bin nicht ich.«
    Ich weiß nicht, was er meint. Eines nach dem anderen gehen die Pferde auf die Hinterbeine und

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