Im Schatten des Kreml
Koffers und übergießt den Holzhaufen mit Kerosin. Der Kanister leert sich gurgelnd, bis die Äste und Zweige in dieser riesigen Zundergrube damit getränkt sind. Der Morgenhimmel über uns erstrahlt in einem kalten, metallischen Glanz; auf der Wiese breitet sich eine friedhofsartige Stille aus. Die todgeweihten Männer hängen in ihren Sätteln. Entweder haben sie keine Ahnung, was sie erwartet, oder sie sind zu abgekämpft, um sich Gedanken darüber zu machen, zumindest bis zu dem Moment, als Abregs Soldaten sie von den Pferden zerren.
Als würde er aus einem schrecklichen Traum erwachen, schreit der Offizier im Soldatenmantel plötzlich: »Nein! Habt Gnade!«, und die anderen stimmen umgehend mit ein. Der vernarbte Junge löst Semerkos Riemen und schleift ihn bis an den Rand der Grube. Der Offizier schreit immer noch: »Gnade!«, immer wieder, wie eine Litanei. Ich bereite mich darauf vor, dass auch mich jemand aus dem Sattel reißt, aber es kommt niemand.
Die Rebellen werfen die Männer auf den Haufen, einen nach dem anderen. Sie stürzen durch mehrere Schichten des Geästs, bis sie irgendwo hängen bleiben – alle bis auf einen, der so schwer ist, dass er durch das Gestrüpp kracht, bis er ganz unten auf einem dicken Ast landet. Ein zerbrochener Zweig bohrt sich durch den fleischigsten Teil von Semerkos dünnem Bein. Er schreit unter dem Plastik, das noch immer sein Gesicht bedeckt. Er sieht aus wie ein zehnjähriger Junge, der aus seinem Baumhaus gefallen ist – wie der Junge, der mit den japanischen Tauschkarten spielte, die ich in seiner Truhe gefunden habe.
»Ich würde die Bombe nicht hochgehen lassen«, sagt Abreg. »Nicht, solange wir in Frieden gelassen werden. Ich würde sie fotografieren. Ich würde der Welt zeigen, dass ich sie habe. Alles, was ich will, ist ein Abschreckungsmittel.«
»Die Russen, die Amerikaner – niemand wird es so weit kommen lassen. Kapierst du das nicht?«
»Ich bin lange genug eine wandelnde Zielscheibe gewesen, Volkovoj. Ich werde auch das überleben. Und wenn nicht, wird jemand anders meinen Platz einnehmen. Und das ist zu deinem Nachteil, denn wer immer es ist, er wird sehr viel schlimmer sein als ich.«
Der bärtige Widerstandskämpfer steht an der Grube, zeigt nach unten und lacht, durch und durch böse. Die Zwillinge und ihr Vater stellen sich zu ihm, zusammen mit mehreren anderen, und sehen zu, wie er das Kerosin direkt auf die Männer schüttet.
»Diese Männer«, Abreg deutet auf die russischen Gefangenen unter uns, »diese Männer sind schuldig. Sie sind Mörder, Vergewaltiger, Folterer. Es gibt keine Erlösung für sie. Keine Absolution.«
»Was ist mit mir? Hast du nicht deshalb darauf bestanden, dass ich komme? Damit dein Feuer noch heller lodert?«
Er reißt die Zügel seines Fuchses herum. »Du verstehst immer noch nicht, was? Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich damals so lange verschont habe, wie es ging, und ich werde es auch diesmal tun.«
»Warum?«
»Weil du noch eine Chance verdienst.«
»Das tun sie auch.«
»Nein, tun sie nicht«, zischt er. »Du wirst deine Meinung ändern, wenn du das Video siehst.«
»Dann töte sie wenigstens schnell.«
Abreg sieht mich schweigend an, während sein Fuchs rückwärtstänzelt und das Klirren seines Geschirrs den Schreien nach Gnade eine musikalische Note hinzufügt. Er will etwas erwidern, räuspert sich und schaut weg. Die aufgehende Sonne erhebt sich flackernd über einen gezackten Gebirgskamm im Osten. Als er hochsieht, bleibt eine einzelne Schneeflocke an seinen Wimpern hängen. Er blinzelt sie weg.
»Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch unter Kontrolle habe«, sagt er leise und wendet den Kopf in Richtung des Bärtigen mit den schwarz glühenden Augen. »Die Wahhabiten haben fast überall das Ruder übernommen, sie bemächtigen sich sogar schon unserer Jugend. Manche von ihnen sind nicht mal Tschetschenen. Sie kämpfen nicht für die Unabhängigkeit. Sie kämpfen den ghazawat, den heiligen Krieg.«
Sein Pferd tänzelt zur Seite, schnaubt und schüttelt die Mähne. Schneeflocken treiben durch die Luft und landen wie kalte Nadelstiche auf der Haut. Abreg atmet tief ein, sagt aber nichts, sondern dreht nur abwesend am Griff seines Gehstocks.
Dann brüllt er einen Befehl in einem rauen Dialekt. Der Bärtige flucht unzufrieden. Er nimmt eine Fackel und schwingt sie, als wolle er sie in die Grube werfen. Mehrere der Männer umringen ihn und halten ihn zurück. Die Zwillinge und ihr Vater
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