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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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linkes Auge, das milchig weiße, unergründliche, und versuche zu unterscheiden zwischen dem Mann, der jetzt vor mir steht, und der Erinnerung an den, den ich einmal kannte. Sein Blick fällt auf den armen Kerl am Boden, der immer noch gierig die Luft einsaugt.
    »Das ist typisch für dich, Volkovoj. Du handelst, ohne vorher nachzudenken. Du solltest dich erst mal fragen, ob der Mann es wert ist, gerettet zu werden. Ist er mein Freund oder ist er mein Feind? Du siehst nur die Uniform, oder das, was davon übrig ist, und schon läuft das Programm in deinem Kopf ab. Jede Spur von einem eigenständigen Gedanken wurde offenbar in Balaschicha-2 weggespült. Wie schade.«
    Ich habe den Griff des Messers in meiner Tasche aufgeschraubt. »Niemand hat es verdient, so zu sterben«, entgegne ich. Obwohl, wenn der Mann auf dem Boden Semerko ist – wie ich vermute – , dann hat er einen grausamen Tod verdient, aber erst, nachdem er mir gesagt hat, wo ich Galina finde. Während ich rede, reiße ich einen magnetischen Peilsender ab, der aussieht wie ein Porzellanknopf und in die Innenseite meiner Hosentasche eingenäht wurde.
    Abreg beugt sich vor, was eher einer spasmischen Zuckung ähnelt als einer absichtlichen Bewegung. Sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz. »Was für ein Scheiß! Wie viele Männer sind langsam gestorben, damit man noch ein paar Informationen aus ihnen herauspressen konnte, die wenige Stunden später wertlos waren?«
    »Es hat mir noch nie Vergnügen bereitet, andere Menschen leiden zu sehen.« Ich schiebe den Sender mit dem Finger vorbei an den anderen kleinen Utensilien in den hohlen Griff und schraube den Deckel wieder an, alles problemlos mit einer Hand.
    »Glaubst du etwa, mir? Glaubst du, es gefällt mir, was aus mir geworden ist?« Flüssigkeit läuft aus seinem toten linken Auge über sein Gesicht und sammelt sich im Mundwinkel. »Vergiss nicht, Volkovoj, ich habe dir nie etwas getan, außer mit dir zu reden.«
    In einem früheren Leben, unter einem anderen Namen, vor dem ersten tschetschenischen Krieg, schrieb Abreg eine Kolumne für eine Tageszeitung in Grosny. Er vertrat die Position der Separatisten, aber seine Artikel waren weder besonders scharf noch militant, nicht mal unbedingt antirussisch, jedenfalls nicht diejenigen, die in seiner Akte verzeichnet sind. Ein Experte des Geheimdienstes schrieb einen Bericht, in dem er behauptete, Abreg habe sich der Gewalt verschrieben, nachdem ein Raketenwerfer sein Zuhause ausradiert und seine Frau und seine Kinder getötet hatte, und er selbst als deformiertes Wrack in Grosnys Krankenhaus Nummer Vier landete, inmitten von Cholera, Diphtherie, Hepatitis und Diarrhoe. Aber all das spielt jetzt keine große Rolle mehr, denn wer hat schließlich nicht gelitten?
    »Du hast andere die Drecksarbeit für dich machen lassen.«
    »Ich habe dich am Leben gelassen!«, donnert er und springt halb aus seinem Schneidersitz auf. Die plötzliche Bewegung lässt ihn aufstöhnen und wieder auf seinen Platz zurückfallen. Vater und Sohn strecken beide besorgt die Hand nach ihm aus, aber er winkt ab.
    Ich zeige auf den gefesselten Soldaten. »Ist sein Name Semerko?«
    »Du kennst ihn?«
    »Was ist mit dem Mädchen, das bei ihm war?«
    »Sind russische Kinder wichtiger als tschetschenische? Eure Bomber machen ganze Dörfer erbarmungslos dem Erdboden gleich, und du fährst ans Ende der Welt, um ein kleines Mädchen aus Moskau zu suchen? Verstehst du, dass mich so etwas böse macht?«
    »Nicht böse genug, um dem Mädchen wehzutun.«
    Eine vertikale Linie bildet sich zwischen seinen verfilzten Brauen. »Glaubst du wirklich, mich so gut zu kennen?« Er zielt mit dem Ende seines Stocks auf mich. »Ich wickle ihr Gesicht in Plastik und töte sie genauso wie ihn. Ohne etwas dabei zu empfinden. Würdest du dir gern einen Film anschauen, Volkovoj? Willst du sehen, was eure Leute machen, wenn sie glauben, dass niemand davon erfährt? Zehn Mädchen wie das aus Moskau – zehn ›Schwarze‹, so nennen sie uns doch, oder? – , auf viel schlimmere Art getötet. Genau wie ihre Mütter, Väter und Brüder – alle mussten sie dran glauben! Sieh es dir an und sag mir, warum ich auch nur einen von euch verschonen sollte.«
    Unter Schmerzen greift er in seine Jackentasche, hält einen silbernen USB-Stick hoch und wirft ihn mir zu wie eine Münze, sodass ich ihn aus der Luft fangen muss.
    »Starye Atagi war das Grauen«, sagt er.
    Ich stecke den Stick – die »zwei verdammten GBs«, wie der

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