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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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klappe den Deckel auf, aber um hineinzusehen, muss ich mich Vorbeugen und mich dabei mit einer Hand am Steuerrad festhalten. Zuerst kann ich nichts erkennen, dann nimmt das Bild Gestalt an wie ein sich langsam entwickelndes Polaroid.
    Ein Gesicht. Oder eher die Haut eines Gesichts, nach vorne gewölbt, als umhülle sie noch einen Schädel, aber ohne die üblichen Konturen von Wangenknochen, Stirn, Nase und Kinn. Das Fleisch ist mit getrocknetem Blut besprenkelt, klumpig, wo sich die Haut von allein zusammengezogen hat, und an den Rändern aufgerollt. Der buschige Schnurrbart, der immer kurz davor schien, dem Hauptmann wie ein pelziges Nagetier von der Oberlippe zu springen, sitzt noch unter zwei Öffnungen, wo vorher die Nasenlöcher waren. Ich muss die grünen Augen und das ihnen eigene Lächeln nicht sehen, um das Gesicht zu erkennen, das einst dem geschätzten Adjutanten des Generals gehörte.
    Ich lüpfe mein Hosenbein und ziehe ein Messer aus dem Schlitz in meiner Prothese. Mit der Spitze hebe ich den klebrigen Hautrand an. Die Unterseite glänzt blutig und knorpelig. Darunter glitzert ein elfenbeinfarbenes Etwas in Form eines großen Eis – viel zu plump, um eines der kaiserlichen Ostereier zu sein. Das hier ist Kitsch für Touristen.
    Ich lasse die Haut zurückfallen. Vielleicht irre ich mich, aber der Menge an Blut nach zu urteilen muss jemand dem Hauptmann das Gesicht bei lebendigem Leib abgezogen haben.
    Golko starrt durch das Fahrerfenster. Seine dunklen Wangen sind bleich. »Das haben sie also damit gemacht.«
    Ich klettere aus dem Mercedes, gehe langsam zum Heck, Golko im Schlepptau, und versuche mir einen Reim auf das zu machen, was ich gerade gesehen habe. »Unter dem Gesicht liegt ein fabrikgefertigtes Ei. Finden Sie raus, woher es stammt.«
    Mit zitternder Hand kritzelt er etwas auf seinen Block.
    Auf mein Kommando hin öffnet er das Kofferraumschloss. Als der Deckel hochschwingt, wendet er das Gesicht ab. Ich sehe hinein.
    Zwei brutal zugerichtete Leichen liegen nebeneinandergequetscht in dem engen Raum. Nackt. Eine sadistische Orgie aus verbranntem, zerschnittenem und gehäutetem Fleisch. Dubinins gesichtsloser Körper liegt oben. Die Augen fehlen. Vielleicht sind sie irgendwo im Kofferraum zusammen mit dem Rest, aber das glaube ich nicht. Die Höhlen sind nicht so zerklüftet, wie sie es wären, wenn man ihm die Augen rausgerissen oder ausgehackt hätte; sie sind glatt, als wären die Augäpfel sorgfältig wie Melonenkugeln ausgestochen worden, von jemandem, der sie aufheben wollte. Dubinins Brustwarzen und Genitalien sind geschwärzt von Elektroden, die Stromstöße durch seinen Körper gejagt haben. Rings um seine Handgelenke sieht man Spuren von Abbindschnüren. Der andere Mann hat noch sein Gesicht, aber es ist entstellt von der Wucht der Kugel, die ihm den Hinterkopf weggepustet hat.
    »Wer immer das war, hat eine Botschaft hinterlassen«, sagt Golko heiser, offenbar wieder bei Sinnen. Er zeigt auf die Unterseite der Haube, auf der mit Blut eine Reihe von Ziffern gemalt ist. Das Blut stammt wahrscheinlich von Dubinins frisch gehäutetem Gesicht. Ich muss in die Knie gehen und den Kopf schief legen, um sie lesen zu können: 75859113323.
    Die Zahl oder der Code, oder was immer es ist, sagt mir nichts. Mein Blick fällt zurück in den Kofferraum. Dubinins leere Augenhöhlen haben etwas Anklagendes, als bettelten sie um Antworten auf all die Fragen, die mir durch den Kopf gehen.

6
    »Können Sie sich das erklären?«, frage ich Golko. – Er sieht sich auf dem Parkdeck um, dann wieder auf die Zahlen auf der Unterseite der Kofferraumhaube, und zieht vor Konzentration die Augenbrauen zusammen. »Nein.«
    »Sprechen Sie mit den Dechiffrierungs-Experten des Generals und sagen Sie mir dann, was Sie herausgefunden haben.«
    »Jawohl, Herr Oberst.«
    »Haben Sie eine Kamera?«
    »Natürlich. Die Spurensicherung wird den gesamten Tatort fotografieren. Der General wollte nur, dass Sie es sich zuerst ansehen.«
    Die investigativen Mittel des Generals sind lächerlich im Vergleich zu europäischen oder amerikanischen Städten, aber sie haben denen der örtlichen Behörden immer noch einiges voraus. Die russische Polizei funktionierte viel zu lange als Apparatschik der Politik und erlangte keinerlei verbrechenswirksame Kompetenz. Nun verbringt sie die meiste Zeit damit, Erpressungsund Bestechungsgelder einzutreiben, um den Hungerlohn aufzubessern, den sie von der Stadt bekommt.
    »Jetzt, hier, haben Sie

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