Im Schatten des Kreml
Anschließend trage ich Charlie zu ihrem Bett.
Ein Saphir-Anhänger in Form eines Eis mit einem darin eingearbeiteten Diamantkreuz schmiegt sich in die bleiche Mulde ihrer Kehle. Ich lasse ihn in meiner hohlen Hand hüpfen, fühle sein überraschendes Gewicht und reiße ihn von der goldenen Kette, um ihn zu Semerkos Seil in die Tasche meiner Lederjacke zu stecken.
Charlies Handtasche – Prada, schwarz mit silbernen Beschlägen – steht auf der Arbeitsplatte der Küche neben einem Toaster. In der Tasche liegt ihr Handy. Als ich den mittleren Knopf der Tastatur drücke, leuchtet das Display auf; aber es verlangt ein Passwort, also lege ich das Handy beiseite.
In ihrem Portemonnaie sind etwas mehr als elftausend Rubel, ein Handvoll Kreditkarten und dreihundert Dollar in neuen Scheinen. In Charlies Washingtoner Führerschein ist verzeichnet, dass sie ein Meter siebzig groß ist und siebenundsechzig Kilo wiegt. Auf dem Bild trägt sie das Haar hinten kurz und vorne etwas länger, sodass es ihr gebräuntes Gesicht umrahmt. Ihr Teint steht in krassem Gegensatz zu Moskaus grauem Januar, auf den man durch ein winziges Küchenfenster über der Essnische blickt, dunkle Wolken und Schneeflocken im Licht der Straßenlampen. Charlie hat meergrüne Augen und leicht geöffnete Lippen, hinter denen erstaunlich weiße Zähne leuchten. Einer der Vorderzähne steht ein ganz kleines bisschen vor.
Sie stöhnt und windet sich inzwischen auf dem Bett. Langsam kommt sie wieder zu Bewusstsein. Sie sieht jetzt anders aus als auf dem Foto. Die Bräune ist verschwunden. Ihre geschlossenen Augen sind von dunklen Ringen umrandet. Ihr Haar ist länger und das Gesicht schmaler. Etwas Blut rinnt an ihrer Schläfe hinunter, dort, wo ich sie erwischt habe. Sie trägt Röhrenjeans tief auf den Hüften und einen eng anliegenden Kaschmirpullover. Die Ärmel sind an den Handgelenken nach oben gerutscht, darunter kommt weißer Verband zum Vorschein.
Sie seufzt, richtet sich auf und hält sich den Kopf. Ihre Augen weiten sich, als sie das Blut an ihrer Hand sieht. »Sie hatten kein Recht, mich zu treten!«, sagt sie gereizt auf Englisch.
In der Kammer der Sig steckt schon eine Kugel, aber ich lade trotzdem noch mal durch, nur wegen des Geräuschs, dann ziele ich auf ihren rechten Fuß. »Was hatten Sie gestern Abend in der Kommandozentrale zu suchen?«, frage ich sie, ebenfalls auf Englisch.
Sie versucht, den Fuß hinter das linke Bein zu schieben. Wenn man dem Verband glauben will, hat sie keine Angst zu sterben, aber offenbar hat sie trotzdem keine Lust, vorher von Kugeln durchsiebt zu werden.
»Ich wurde von dem Mann festgehalten, den Sie k. o. geschlagen haben.« Sie sagt es so, als sollte ich das bereits wissen. Allein durch ihren Tonfall sinkt meine Meinung von ihr beträchtlich. Sie ist keine strahlende Athene, die für die Gerechtigkeit kämpft – außer vielleicht, um sich hin und wieder damit zu schmücken. Sie ist ein egozentrisches Kind, so eingenommen von ihrer Situation, dass sie von jedem anderen erwartet, sich in sie hineinzuversetzen.
»Von Lachek?«
»Ich weiß nicht, wie er hieß.«
»Warum wurden Sie festgehalten?«
»Das weiß ich auch nicht.«
Ich wedele ungeduldig mit der Sig. »Kommen Sie zur Sache, Charlie. Was ist passiert?«
Es scheint sie nicht zu überraschen, dass ich ihren Namen kenne. Sie wirft einen Blick auf die Pistole und antwortet schnell: »Vor ein paar Tagen wurde ich abgeholt. Dieser Mann – Lachek? – und ein anderer sperrten mich in einem Landhaus ein. Ich habe keine Ahnung, wo. Gestern brachten sie mich in die Stadt. Das Gebäude brannte schon, als wir dort ankamen. Lachek befahl mir, so zu tun, als sei ich eine Geisel, und er erklärte mir genau, was ich sagen sollte, nur das und sonst nichts. Mein Russisch ist schlecht, es fiel mir also nicht schwer, den Mund zu halten.«
»Wie konnten Sie fliehen?«
»Der andere Mann – der, der neben mir stand, als Sie hereinkamen – führte mich aus dem Gebäude raus, kaum dass Sie weg waren. Er telefonierte und zerrte dabei so sehr an meinem Arm, dass ich dachte, er würde ihn mir auskugeln. Ich wollte mich losreißen, denn statt von dem brennenden Gebäude wegzulaufen, gingen wir direkt drauf zu. Was machen Sie da?«
Ich bin ihr noch einen Schritt näher gekommen, eine fast unbewusste Reaktion auf das, was sie gerade gesagt hat, und jetzt bin ich an ihrem Bett, stütze ein Knie auf die Matratze und lasse die Sig vor ihren weit aufgerissenen Augen
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