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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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den Schultern hindurchpasse, vorbei an grünen Holztüren, neben denen jeweils eine Nummer auf den Backstein gesprüht wurde. Leere Flaschen und durchweichte Fast-food-Verpackungen stapeln sich in einer Ecke und verbreiten den scharfen Geruch von Urin. Ich steige die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Hier ist es dasselbe, nur der Gestank ist nicht so schlimm.
    Aus der Wohnung am Ende des Flurs erklingt amerikanische Rockmusik – ein Haufen Gitarren und ein Beat, der die Wände wackeln lässt. Ich ziehe die Sig, stelle mich neben die Tür und klopfe. Ein Mann in einem schmutzigen Unterhemd, unter dem sein weißer Bauch hervorquillt, öffnet. Die Musik wummert in meiner Brust, sie ist jetzt viel lauter. Über seine Schulter kann ich seine Frau oder Freundin in der Küche Geschirr waschen sehen, während sich ein daumennuckelndes Kind an ihrem dicken Knie festhält. Ich verstecke die Sig hinter meinem Bein. »Was wollen Sie?«, brüllt er über die Musik hinweg. Ich entschuldige mich, falsche Wohnung, steige die Treppe wieder hinunter und warte auf der anderen Straßenseite.
    Menschen auf dem Weg zum Abendessen hasten vorbei. Die Straßenlichter tauchen den schmutzigen Schnee in einen wächsernen Glanz. Junge Leute betreten das Elektrogeschäft; die Apotheke wird von Menschen jedweder Couleur frequentiert. Ich gehe um das Gebäude herum und blicke hinauf zu den oberen beiden Stockwerken, deren Räume größtenteils vom Schein der Fernseher flackern. Ein alter Mann drückt die Stirn gegen eines der Fenster. Er sieht mich und stößt eine Wolke Zigarettenrauch aus, die sich wie eine Haube um seinen Kopf legt. Zwei Fenster weiter klebt ein Peace-Zeichen. Erster Stock, drittes Fenster von der Ecke aus.
    Binnen Sekunden bin ich wieder oben. Die drittletzte Tür ist die Nummer achtundzwanzig. Dahinter klappert Besteck, zusammen mit leisen Stimmen aus einem Radio oder Fernseher. Ich positioniere mich neben der Tür und klopfe dreimal schnell und höflich. Das Klappern verstummt.
    »Wer ist da?« Die Stimme gehört einer jungen Frau, die miserables Russisch mit amerikanischem Akzent spricht. Es ist die Stimme von gestern Abend.
    Ich drehe mich herum und trete mit dem Stiefel gegen die Tür, direkt neben dem Knauf. Das alte Holz splittert, und die Tür gibt nach, springt aber nicht ganz auf, weil sie von einer kurzen Kette gehalten wird. Ein panischer Schrei empfängt mich, als ich meine Schulter dagegenramme und die Kette aufbreche. Ich stürze hinein, ziehe die Sig und gehe in die Hocke.
    Von der kleinen Diele gehen zwei Zimmer ab – eine Küche und ein Schlaf – und Wohnzimmer. Die vermeintliche Geisel aus dem AMERCO-Gebäude, die Frau mit dem aschblonden Haar, steht wie versteinert in der Küche. Sie weicht zurück und will fliehen, aber sie kann nirgends hin. Ich laufe drei Schritte auf sie zu, greife mit der linken Hand nach ihr und reiße sie zu Boden. »Warten Sie!«, brüllt sie und knallt auf das Parkett. Ich schwenke die Sig herum, auf der Suche nach einem potenziellen Ziel. Ein Aluminiumtisch mit einem halb aufgegessenen hart gekochten Ei, einer Flasche kvas und einem Glas, ferner ein tragbarer Fernseher, in dem Nachrichten laufen, ein ungemachtes Einbaubett und ein leeres Bad. Kein Mensch.
    Charlie liegt flach auf dem Rücken und tritt stöhnend nach meinem Schritt. Ich wehre ihren Fuß mit dem Oberschenkel ab, aber es schmerzt trotzdem. Sie setzt zu einem weiteren Tritt an, aber ich treffe ihren Kopf mit der Spitze meines linken Stiefels. Sie macht ein stöhnendes Geräusch wie eine Jukebox, wenn man den Stecker zieht, dann sackt sie in sich zusammen. Ich habe links kein Gefühl im Fuß, nur das, was meine Prothese an mein Knie weiterleitet, vielleicht habe ich also zu hart zugetreten. Der Schlag, den ich dem jungen Lachek gestern Nacht verpasst habe, ist Beweis genug dafür, dass ich meine Kraft nicht richtig dosieren kann.
    Nur für den Fall, dass sie nicht allein ist, haste ich zurück und stelle mich mit dem Rücken gegen die Wand hinter die eingeschlagene Tür, aber nichts passiert. Ich werfe einen Blick in den Flur. Die anderen Türen auf dieser Etage sind alle geschlossen, ich glaube also nicht, dass irgendjemand gehört hat, wie ich hier hereingeplatzt bin. Und wenn doch, scheint es niemanden zu interessieren.
    Ich gehe zurück in die Wohnung und ziehe die Tür, so weit es geht, zu. Dann schiebe ich einen Stuhl davor und stütze den Knauf damit ab, sodass keiner so leicht hereinkommt wie ich.

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