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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml Kostenlos Bücher Online Lesen
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geöffnet und darin sitzt vor einem goldenen Korb eine ebenso goldene Henne mit weißen Diamanten als Federn und Diamanten mit Rosettenschliff als Augen. Im Korb liegt der Saphir-Anhänger, der jetzt in meiner Tasche steckt.
    All das ist auf einen grün-weiß-roten Stoff drapiert, den ein kreisförmiges Zeichen ziert, das auf dem Foto schwer zu erkennen ist. Aber ich weiß auch so, dass innerhalb des Kreises ein schwarzer Wolf unter einem Vollmond zu sehen ist. Das Ei und all seine Einzelteile liegen auf der Fahne der tschetschenischen Rebellen.

19
    Das Erste, was mir durch den Kopf schießt, ist, dass Khanzad das Ei oder irgendeine andere Beute nicht auf die Rebellenflagge gelegt hätte, wenn es ihm nicht darum ginge, sich als wilden Freiheitskämpfer darzustellen. Die Flagge kann nur bedeuten, dass Khanzad jemanden in die Irre führen wollte, der dumm genug war, ihm seine Inszenierung abzukaufen. Vielleicht jemanden wie Ravi oder auch nur Ravis naive amerikanische Freundin.
    Ich schnappe mir einen Metallstuhl aus der Essnische und drehe ihn herum, sodass ich mich rittlings draufsetzen kann und Charlie dabei ansehe. Sie rutscht unbehaglich hin und her und greift nach dem losen Ende des Verbandes an ihrem linken Handgelenk.
    »Warum sind Sie gestern nicht zur amerikanischen Botschaft gegangen, nachdem Sie geflohen sind?«
    »Ich wusste nicht, wie ich hinkommen sollte, und ich hatte Angst. Ich bin hierher zurückgekehrt, weil ich wusste, dass ich hier sicher bin. Dann habe ich in der Botschaft angerufen, mit einer Sondernummer, und die Frau, mit der ich gesprochen habe, sagte, ich solle zum Platz gehen und dort warten, jemand würde mich dann abholen, aber...«
    »Aber was?«
    »Es klang irgendwie seltsam.«
    Die Telefonistin des Generals kann sich auf unterschiedlichste Art verraten haben. Manchmal reicht ein falsches Wort oder eine seltsame Wendung.
    »Warum das Peace-Zeichen im Fenster?«
    Sie guckt erst überrascht, dann bestürzt und tieftraurig. »Ist da eins? Das muss Ravi hingeklebt haben, bevor er...« Sie sieht weg. »Das hier war unser Zufluchtsort.«
    In Gedanken zähle ich die Anzahl der Emotionen, die sie in der kurzen Zeit, die ich hier bin, gezeigt hat. Angst, Selbstmitleid, Unverfrorenheit, Überraschung, Trauer – der feuchte Traum eines jeden Nervenarztes: ein psychisches Wrack mit einem reichen Daddy, der die Rechnungen zahlt.
    »In der Zeitung stand, Ravi hätte sich umgebracht.«
    »Das ist eine Lüge!«
    »Vielleicht haben Sie recht. Jeder hätte ihn töten können. Wer den Terroristen der Jemaah Islamiyah Geheimnisse verkauft, ist eine wandelnde Zielscheibe.«
    Charlies Gesicht läuft knallrot an, sie rappelt sich vom Bett hoch und stürzt sich Fäuste schwingend auf mich. Ohne aufzustehen packe ich sie mit ausgestrecktem Arm am Kopf, greife eine Handvoll Haare und zwinge sie auf den Boden, wo sie nach mir tritt und versucht, mir mit den Fingernägeln das Gesicht zu zerkratzen. Immerhin schafft sie es, eine frisch verschorfte Brandwunde an meinem Hals aufzureißen, bevor ich ihr meinen Absatz so hart in den Solarplexus ramme, dass ihre Rippen nachzugeben scheinen. Ich umfasse ihre beiden Hände mit meiner Rechten, hebe sie über ihren Kopf und nehme mir dabei fest vor, in Zukunft diese Plastikhandschellen dabeizuhaben, die in letzter Zeit überall so beliebt sind. Für ihren Analytiker registriere ich noch eine weitere Gefühlsregung: blinde Wut.
    Sie schnappt nach Luft, der Mund geht auf und zu. Ihr Gesicht läuft blau an, ehe sie den ersten flachen Atemzug machen kann, dann den zweiten, bis sie wieder anfängt zu schnaufen. Ich lasse ihre Hände los, und sie hält sie sich vors Gesicht und rollt sich zusammen.
    »Sie Schwein!«, zischt sie leise. Ihre Augen sind geschlossen, sie ist noch immer rot im Gesicht, und die Adern an ihrem Hals pulsieren. »Sie sind durch und durch böse. Sie zerstören alles Gute. Zerstampfen Männer wie Ravi zu Hamburgern unter Ihren Stiefeln. Es wird sich nie etwas ändern.«
    Mutige Worte, wie fatalistisch sie auch sein mögen. Sie hat mich wieder überrascht, diesmal mit einem halbwegs ernsthaften Gedanken. Vielleicht klingt hier die Charlie durch, die sie hätte sein können, oder ein Überbleibsel von derjenigen, die sie an Ravis Seite war. Ich wende meinen Blick von ihr ab. Hinter dem Fenster ist es noch dunkler geworden, offenbar kündigt sich erneuter Schneefall an. Dieser Januar entwickelt sich zu einem der kältesten in der jüngeren Vergangenheit. Was

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